Ein Kind ist schon ein ziemlich großes Investment“, sagt Dr. Roman Stengelin am Mittwochvormittag im Kronenzentrum in Bietigheim-Bissingen. Der Psychologe war der zweite Redner bei den diesjährigen Akademietagen, die eine Veranstaltung der Stadt Bietigheim-Bissingen, des Dachverbandes für Seniorenarbeit Bietigheim-Bissingen und der Schiller-Volkshochschule Kreis Ludwigsburg in Zusammenarbeit mit der Bietigheimer Zeitung sind.
Akademietage in Bietigheim-Bissingen „Ein Kind ist schon ein ziemlich großes Investment“
Bei den 18. Akademietagen referieren sechs Experten im Kronenzentrum in Bietigheim-Bissingen. Am Mittwoch unter anderem Dr. Roman Stengelin zur kulturellen Variation.
Kindheit als Wendepunkt
Er selbst sei Vater einer zweijährigen Tochter, daher erfahre er derzeit am eigenen Leib, wie groß das „Investment“ in diesen kleinen Menschen sei. Die Kindheit als Lebensphase wiederum gebe es in dieser Ausprägung nur beim Menschen. Sie mache so gesehen einen Teil des Menschseins aus – sogar einen entscheidenden. Denn Tiere seien recht schnell nach dem Abstillen geschlechtsreif. Der Mensch jedoch durchlebe eine lange Phase, in der er noch nicht geschlechtsreif sei. „Die Kindheit ist ein entscheidender Wendepunkt“, so die These des Kulturpsychologen, der vor allem auch zu kindlichem Sozialverhalten (siehe Infobox) forscht. Sein Forschungsschwerpunkt liegt dabei im ländlichen Namibia.
Um Kultur zu verstehen, brauche man eine „Top-Down-Perspektive“, so Stengelin. Denn aus der Vogelperspektive sei vieles einfacher zu beantworten. Als Bespiel dafür wählte er zwei Fische, die durch die Enz schwimmen und von einem älteren Fisch gefragt werden, wie das Wasser ist. Woraufhin die beiden jungen Fische sich fragen: „Was ist Wasser?“ Diese auf Bietigheims heimisches Gewässer übertragene Parabel des Autors David Foster Wallace kam beim Publikum gut an und sicherte Stengelin die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. „Von außen betrachtet, ist das leicht zu beantworten. Als Fisch aber ist das sehr schwierig“, so der Wissenschaftler weiter. Alles sei eine Frage der Perspektive – das treffe auch stark auf die entwicklungspsychologische Forschung zu.
Betrachte man etwa die Forschung zur Entwicklung von Kindern, forschen vor allem „the weirdest people in the world“ (deutsch: „die seltsamsten Menschen der Welt“; Buchtitel des Anthropologen Joseph Henrich). „Weird“ nutzte Henrich als Akronym für „western“ (westlich), „educated“ (gebildet), „industrialized“ (industrialisiert), „rich“ (reich) und „democratic“ (demokratisch). Stengelin erklärte, dass über 90 Prozent der Versuchspersonen, an denen geforscht wird, aus dieser „weird“-Gruppe stamme, die wiederum gerade einmal zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmache.
Repräsentanz der Forschung
Die Forschungsergebnisse würden jedoch auf alle Menschen übertragen, unabhängig von kultureller, sozialer und geografischer Herkunft. „Wie repräsentativ ist die Forschung?“, fragte Stengelin in den Saal. Für die Kindesentwicklung im Globalen Süden beispielsweise gebe es kaum Forschung, dabei seien signifikante Unterschiede festzustellen.
Mit dem Bietigheim-Bissinger Publikum führte der Forscher einige beispielhafte Tests durch und zeigte Videos, wie namibische Kinder sich bei den Tests verhielten. Damit demonstrierte Stengelin seiner Zuhörerschaft, dass es auf den eigenen Blickpunkt, aber auch kulturell erlernte Sichtweisen ankomme. Gemeint sind etwa das räumliche Denken oder auch die visuelle Wahrnehmung.
Zur Person
Dr. Roman Stengelin studierte Psychologie an den Universitäten Koblenz-Landau und Leipzig und promovierte am Lehrstuhl für frühkindliche Entwicklung und Kultur der Universität Leipzig. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der frühkindlichen sozialen Entwicklung aus einer kulturvergleichenden Perspektive.