Als den DLW im Aurain allmählich die Bauplätze für Arbeiterwohnungen ausgingen, präsentierte die nationalsozialistische Stadtverwaltung unter Bürgermeister Gotthilf Holzwarth (1933 bis 1945) am 30. März 1935 Pläne für ein neues Bauprojekt: die Arbeitersiedlung Sand. Unterstützt durch die Bauvorhaben des Dritten Reichs über die Deutsche Arbeitsfront sollte auf einer Fläche von 20 Hektar auf dem Gebiet des damaligen Maiwaldes ein neues Wohngebiet nach einem Masterplan entstehen. Entworfen wurde die Siedlung vom Stadtbauamt in Gemeinschaft mit den Architekten des DLW, dem Innenministerium und dem Reichsheimstättenamt. Der Spatenstich erfolgte keine drei Wochen nach der ersten Verlautbarung, am 17. April 1935.
Bietigheim-Bissingen Mustersiedlung aus dunklen Zeiten
Die Arbeitersiedlung Sand galt im Dritten Reich als vorbildliches Bauprojekt. Die Stadt erlangte durch sie auch überregionale Bekanntheit.
Der Enz- und Metterbote schrieb am Tag darauf: „Am östlichen Rande der Stadt, auf dem Gelände des Sand, (...) geht es schon über bald zwei Jahre lebhaft und betriebsam zu. Zuerst war es der Bau der neuen Wasserversorgungsanlage, welcher Erdbewegungen und Wegbauten nötig machte. Dann waren es allerlei Kulturarbeiten und nun wird oberhalb des Talgrundes, im oberen Sand, auf welchem Jahrhunderte lang tiefste Ruhe lag, ein Werk begonnen, das dieses Gewand herausnimmt aus seiner Stille und einreiht in unser lebhaftes Stadtgebilde.“
Als Ausgleichsmaßnahme, um den betroffenen Landwirten Ersatz für ihre Grundstücke im Sand zu bieten, wurde der Maienwald in Metterzimmern gerodet.
110 Grundstücke
Im Sand entstanden so zunächst 110 Grundstücke zu je zehn Ar. Vorgesehen war der Wohnraum dabei einerseits für Arbeiter der DLW, andererseits ging auch der Kammgarnspinnerei der Platz aus und auch kleinere Firmen wollten am Projekt beteiligt werden. Wer letztlich einziehen durfte, entschieden die Unternehmen. Angewiesen waren diese jedoch, kinderreiche, junge Familien bevorzugt zu behandeln.
Die Häuser waren von Anfang an mit Gas, Wasser und Strom versorgt und gehörten zu den ersten mit elektrischem Licht. Eine Kanalisation gab es aus Kostengründen vorerst nicht. Die Gebäude folgten zumeist dem gleichen Aufbau: Im Untergeschoss hatte man einen Gewölbe- und Kohlenkeller, im Erdgeschoss eine Küche, zwei Zimmer, eine Waschküche und einen eingebauten Kleintierstall, im Dachgeschoss die Giebelstube. Jedes Haus verfügte über eine Gartenfläche zum Anbau von Nahrungsmitteln – vermutlich ein bewusstes Vorgehen des Regimes, um sich auf den bevorstehenden Krieg und die drohende Lebensmittelknappheit vorzubereiten.
Holzwarth sagte beim Spatenstich: „Wenn auch unsere größte Sorge vorab noch die Unterbringung tausender deutscher Arbeitskameraden in Arbeit und Brot sein muss, so kann doch in einem bestimmten Rahmen an die Hebung des Lebensstandards der Einzelnen gegangen werden.“
Nach 30 Jahren abbezahlt
Gebaut wurden die Häuser teilweise in Eigenarbeit durch die Arbeiter der DLW, teilweise durch Soldaten der Wehrmacht. Einen Arbeiter kostete das zur damaligen Zeit 7050 Reichsmark, finanziert wurden die Kosten durch einen Kredit der Kreissparkasse in Höhe von 3500 Reichsmark und einen Kredit der DLW über 2950 Reichsmark. Nach rund 30 Jahren war das Haus damit abbezahlt – für viele Arbeiter ein lukratives Angebot. Die ersten 31 Häuser mit Gärten entstanden noch im Jahr 1935, im Folgejahr kamen weitere 42 dazu. Bis 1938 wurden insgesamt 179 Wohnungen errichtet. Es wurden jedoch nicht nur Wohnhäuser im Sand errichtet. Unter anderem baute man einen NSV-Kindergarten, der mehr als 100 Arbeiterkinder betreute.
Im Dritten Reich galt die Sandsiedlung – im Enz- und Metterboten als „Symbol des Nationalsozialistischen Gemeinschaftsgeistes“ bezeichnet – als vorbildliches Bauprojekt. Der Enz- und Metterbote schrieb bereits zum Spatenstich: „Die Siedlung wird nach ihrer Vollendung wohl zu einer der schönsten des Landes zählen und ihren Bewohnern mit Familien viel Freude bereiten. Sie wird bald landbekannt sein und ständig Besucher und Beschauer nach Bietigheim führen. Die Lage ist so ideal, wie sie nur selten zu finden ist. Auf völlig ebenem Gelände gelegen, bietet die DLW-Siedlung (Die Beteiligung anderer Fabriken folgte erst später, Anmerkung der Redaktion) einen herrlichen Ausblick auf Wald, Weinberge und das Tal.“
Mit dieser Prognose sollte der Enz- und Metterbote Recht behalten: Weit über die Stadtgrenzen hinaus war Holzwarths Bauprojekt bekannt und verschaffte der Stadt einen Namen. Wie Michael Schirpf in „Bietigheim 789 bis 1989“ schreibt, besichtigten mehrere prominente Besucher die Siedlung, darunter zum Beispiel der Leiter des Reichsheimstättenamtes und Siedlungsbeauftragter im Stab von Rudolph Heß, Johann Wilhelm Ludowici, im Juli 1936. Im September 1936 begrüßte man den ehemaligen britischen Premierminister Lloyd George in Bietigheim und im Sand.
Bietigheimer Mustersiedlung
Bei einer großen Gewerbeschau der Stadt und der Deutschen Arbeitsfront im Jahr 1938 unter dem Motto „Wille und Tat“ präsentierte man die Arbeitersiedlung erneut einem breiten Publikum. „Eine Nummer des ‚Völkischen Beobachters’ gab Auskunft über die Grundsätze und die Ausführung der Bietigheimer ‚Mustersiedlung’“, heißt es in Hermann Roemers „Geschichte der Stadt Bietigheim an der Enz“.
Im Jahr 1939 wurde das Bauprojekt gestoppt. Die Rohstoffe wurden wurden fortan für die Rüstungsindustrie benötigt, vor allem der Eisenmangel schränkte den Häuserbau stark ein. Die geplante Schule sowie die Kirche im Sand wurden daher erst deutlich später errichtet.
Die grobe Struktur der Sandsiedlung ähnelt heute noch den Verhältnissen von damals, auch wenn viele Gartenflächen mit weiteren Wohnhäusern bebaut wurden und Altbauten meist saniert wurden. Der Kindergarten existiert noch mitsamt des Gemäldes, das über dem Eingang prangt, das Siedlerheim Sand und ein Spielplatz stehen ebenfalls noch an derselben Stelle wie vor gut 80 Jahren.
Nach dem Krieg wurden einige Straßen, die nach Nazigrößen benannt waren, umgetauft. So wurde aus der Horst-Wessel-Straße die Hornmoldstraße, aus dem Platz der SA der Schillerplatz.