Darf Herr Gärtner sterben? Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau, mit der er 42 Jahre verheiratet war, sagt er: „Sie ist weg und ich bin noch da. Das ist einfach nicht richtig.“ Herr Gärtner wurde in mehreren Untersuchungen keine psychische Krankheit nachgewiesen, seine Entscheidung ist lange überlegt und in vielen nächtelangen Gesprächen mit seinen beiden Söhnen reflektiert: Er will nicht mehr leben. Darf ihm also seine Hausärztin eine Überdosis Natrium-Pentobarbital geben?
Bietigheim-Bissingen Publikum wird zum Ethikrat
Im Theaterstück „Gott“ von Ferdinand von Schirach musste sich der Zuschauer selbst mit der Sterbehilfe auseinandersetzen.
Ein Mensch möchte nicht mehr weiterleben und bittet um Hilfe, sich das Leben zu nehmen – es war eine schwierige Frage, die am Montag im Kronenzentrum auf der Agenda stand: In Ferdinand von Schirachs zweitem Theaterstück widmet sich der Deutsche Ethikrat diesem Thema – Fragen, die die menschliche Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung betreffen. Fragen, die im Spannungsfeld von Moral, Christentum und Politik seit Jahren unterschiedlich und leidenschaftlich diskutiert werden.
Publikum entscheidet
„Gott“, so der Titel des Stücks, ist damit hochaktuell: Paragraf 217 des Strafgesetzbuches vom Dezember 2015 verbot die „geschäftsmäßige Förderung“ von Suizid. Dagegen hatten Ärzte, Privatpersonen, Sterbeorganisationen, Pfleger und Rechtsanwälte Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Verbot – so die Beschwerdeführer – verletze ihre Grundrechte. Denn wenn der Staat Sterbehilfe verbiete, so verwehre er das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Am 26. Februar 2020 hat das Verfassungsgericht dieses Verbot für verfassungswidrig erklärt. Doch was bedeutet das für unsere Zukunft?
Diese Frage drängte der Autor den Zuschauern ganz direkt auf: denn der Ethikrat waren sie selbst. Am Ende des Stücks mussten sie abstimmen: Für oder gegen die Verabreichung der tödlichen Dosis durch Herrn Gärtners Hausärztin. Die „Sitzung“ des Ethikrats war dabei aufgebaut wie ein juristischer Prozess: Verschiedene Sachverständige wurden gehört und von Herrn Gärtners Anwalt sowie einem Suizidbeihilfe-kritischen Mediziner nacheinander befragt.
Da war einmal die Ärztin, die aus der Notaufnahme von den vielen fehlgeschlagenen Suizidversuchen berichtete: Stricke rissen nach qualvollen Minuten, Schusswaffen rissen nur den Unterkiefer ab und töteten nicht. Wäre eine professionelle Selbsttötung da nicht der bessere Weg? Da war auch der Vertreter der Bundesärztekammer, der sich auf den hippokratischen Eid berief – der formal nie von einem Arzt geleistet wird, wie der Anwalt gleich einwarf – und der davor warnte, dass es eine ganz grundsätzliche Verschiebung gebe, wenn der Arzt für den Patienten nicht mehr allein eine helfende Instanz ist sondern eben auch eine potenziell tötende.
Pro und Kontra
Das Stück nötigte den Zuschauer dabei, seine Position dauernd zu hinterfragen. Tendierte dieser gerade zu einem Argument, folgte bald die Gegenstimme: In Belgien ließen sich, bei einer diesbezüglich liberaleren Gesetzeslage, in den letzten Jahren schon drei Kinder und Jugendliche – zum Teil im Alter von neun Jahren – auf Wunsch töten. Wolle man das in Deutschland? Aber: die Drei waren alle todkrank und wollten ein würdiges Sterben, folgte schon die Entgegnung.
Vor einer Lawine, die man nicht lostreten solle, warnte auch der Bischof als Vertreter der Kirche: Was täte man, wenn ein Patient seinen Todeswunsch nicht mehr artikulieren könne? Wäre es dann nicht irgendwann so, dass an der Bahre eines Unfallopfers, das nur mit schweren Einschränkungen überleben könnte, über dessen mutmaßlichen Willen gerätselt werden würde? Oder dass Obdachlose und Alte, die der Gesellschaft auf der Tasche liegen, sich irgendwann rechtfertigen müssten, dass sie weiterleben möchten? Wenn man das Leben nach seinem Nutzen beurteile sei das der Dammbruch, so der Bischof.
Die Abstimmung des „Ethikrats“ des Publikums nach einer kurzen Pause zeigte ein gemischtes Ergebnis: 112 Stimmen für und 80 gegen die Verabreichung von Natrium-Pentobarbital an Herrn Gärtner. Das Ziel das Stücks, konnte man in der Pause beobachten, wurde wohl erreicht: Wichtig sei es Herr Gärtner, dass das Thema in der Gesellschaft diskutiert werde.