Ende August vor 50 Jahren zog Bürgermeister Hermann Silcher eine positive Bilanz im Bissinger Gemeinderat. In den noch verbleibenden vier Monaten der Selbstständigkeit habe man noch ein gutes Stück Arbeit vor sich, bislang sei im Jahr 1974 aber schon Wesentliches erreicht worden. Die gute Entwicklung halte an, sagte Silcher laut dem damaligen Bericht der Bietigheimer Zeitung, und nannte unter anderem den Beschluss zum Bau eines Hallenbades, Untersuchungen zum Bau eines Altenheims und vorbereitende Arbeiten zur Ortskernsanierung. Fast schien es, als sei im Ort eitel Sonnenschein – tatsächlich lag aber ein halbes Jahr mit jeder Menge Streit um die Fusion mit Bietigheim hinter der Gemeinde. Ein Rückblick.
Bietigheim-Bissingen vor 50 Jahren Holpriger Weg zur „Vernunft-Ehe“
Vor 50 Jahren bereiteten sich Bietigheim und Bissingen auf den Zusammenschluss vor – begleitet von vielen Widerständen beim kleineren Partner. Der Bürgerwillen in Bissingen wurde dabei vom Landtag ignoriert.
Aufregung wegen Broschüre
Kurz nach Jahresbeginn 1974 fanden die Bissinger eine bunte Broschüre in ihren Briefkästen, die unter dem Titel „Die neue Stadt“ für den Zusammenschluss von Bietigheim und Bissingen warb. In einer Auflage von 20.000 Exemplaren erstellt, wurden darin die Vorteile einer Fusion dargestellt. Der Broschüre lag ein „Vereinbarungsentwurf“ bei, den die Gemeinderäte der Stadt Bietigheim und eine Mehrheit des Bissinger Rats nach vorangegangenen Verhandlungen schon im Oktober 1973 beschlossen hatten. Die Pro-Argumente reichten von gemeinsamen schulischen Einrichtungen, Investitionen mit größerem Nutzen, einer besseren Flächennutzung bis hin einer gemeinsamer Kläranlage als Vorteile einer gemeinsamen großen Stadt. Es biete sich die Chance für „ein blühendes Gemeinwesen für 35.000 Einwohner“.
77 Prozent stimmen mit Nein
Viele Bissinger brachte die Broschüre jedoch auf die Palme. Erst vor drei Jahren, 1971, war ein Zusammenschluss der beiden Orte als Teil der Gebietsreform in Baden-Württemberg am Nein der Gemeinde gescheitert. 75 Prozent der Bürger stimmten damals dagegen. Deshalb war die Broschüre auch nur von zwölf Bissinger Gemeinderäten unterschrieben, die nun für die Fusion waren. Acht Bissinger Räte hatten gegen die Vereinbarung von 1973 gestimmt, Bürgermeister Silcher hatte seine Unterschrift wieder zurückgezogen hatte.
Entsprechend geladen war die Stimmung bei zwei Bürgerversammlungen am 11. und 16. Januar in Bissingen (siehe Infokasten). Diese fanden im Vorfeld einer „Bürgeranhörung“ statt, bei der die Einwohner am 20. Juni Stellung zu der Frage nehmen mussten: „Sind Sie für die Vereinigung der Stadt Bietigheim mit der Gemeinde Bissingen an der Enz zu einer neuen Gemeinde?“. In Bietigheim beteiligten sich 32,7 Prozent der Wahlberechtigten an dem Urnengang und stimmten zu 81,4 Prozent mit Ja. In Bissingen war die Wahlbeteiligung mit 76,8 Prozent mehr als doppelt so hoch, und das Ergebnis war wieder eine deutliche Ablehnung: 77,1 Prozent der Bissinger stimmten gegen die Fusion, noch mehr als 1971.
Entsprechend diesen Voten sagte der Bietigheimer Gemeinderat anschließend Ja zur beabsichtigten Zielplankonzeption der Landesregierung für eine gemeinsame Stadt, der Bissinger Rat hingegen mit neun Gegenstimmen und zwölf Stimmenthaltungen Nein. Die Fronten schienen verhärtet.
Das Land wollte sich jedoch von den unwilligen Bissingern sein Pläne zur Kommunalreform nicht vermasseln lassen. Im Februar stimmte die CDU-Fraktion im Landtag der Zielplankonzeption zu, sodass klar war, dass diese kommen werde und man vor Ort ohnehin keine echte Wahl hatte. Die neue Stadt sollte Bietigheim heißen – was in Bissingen nochmals für Empörung sorgte. Das Ergebnis der Abstimmung in Bissingen wurde ignoriert.
Entsprechend viel Gegenwind bekam der CDU-Landtagsabgeordnete Lothar Späth, der die Entscheidung bei einer CDU-Veranstaltung im März in Bissingen verteidigen musste. Bejubelt wurde der Auftritt von „Remstalrebell“ Helmut Palmer, der unter anderem forderte, es müsse Schluss sein „mit dem Größenwahnsinn der Gemeindereform“.
Danach war es ein längere Zeit ruhig, zumindest was öffentliche Versammlung betraf. Hinter verschlossenen Türen arbeitete eine Verhandlungskommission aus Vertretern der Gemeinderäte beider Orte und der Initiative „Selbstständiges Bissingen“ hingegen weiter. Die Verhandlungen führte Lothar Späth, der dabei unermüdlich zwischen Bietigheim und Bissingen hin und her pendelte.
Lothar Späth schaltet sich ein
Ende Juni überschlugen sich dann die Ereignisse. Nach fünf geheimen Beratungen und zähem Ringen gelang es der Kommission tatsächlich, am 19. Juni einen Vereinbarungsentwurf aus 17 Paragrafen vorzulegen. Der Zeitpunkt war deshalb wichtig, weil bei freiwilligen Vereinbarungen vor dem 1. Juli eine ansehnliche Fusionsprämie winkte. Der Entwurf sah unter anderem vor, dass der Name der gemeinsamen Stadt Bietigheim-Bissingen sein sollte und dass der Bissinger Bürgermeister Beigeordneter werden sollte – zwei Punkte, die von der SPD-Stadtratsfraktion in Bietigheim heftig kritisiert wurden.
Gleichwohl waren nun die Würfel gefallen, und es ging Schlag auf Schlag. Am 25. Juni beschloss der Landtag die Bildung einer neuen Stadt Bietigheim-Bissingen, am 26. Juni stimmte der Bissinger Gemeinderat der ausgearbeiteten Vereinbarung der Kommission zu, am 27. Juni der Bietigheimer Rat. Die Entscheidungen waren jeweils eindeutig – in Bietigheim gab es nur zwei Enthaltungen, in Bissingen drei. Bürgermeister Silcher sprach in der Sitzung von „einer Vernunft-Ehe, die man mit einem Schuss ,Späth-Lese’“ begieße.
Damit konnten für Bietigheim Oberbürgemeister Karl Mai und Bürgermeister Manfred List, für Bissingen Bürgermeister Hermann Silcher am 28. Juni ihre Unterschriften unter die Vereinbarung setzen, womit der holprige Weg zu einer Fusion zum 1. Januar 1975 im gegenseitigen Einvernehmen doch noch zu einem Abschluss gekommen war.