Als er am Morgen des 1. Januar 1975 aus dem Fenster hinausgeschaut habe, habe er festgestellt, dass sich in der Landschaft überhaupt nichts verändert habe, stellte Oberbürgermeister Karl Mai am Abend desselben Tages bei einem Stehempfang im Kronenzentrum vor rund 1000 Anwesenden schmunzelnd fest. Es war die erste feierliche Veranstaltung der neuen Stadt Bietigheim-Bissingen, deren Geschichte an diesem Tag begann. Auch der seitherige Bürgermeister von Bissingen, Hermann Silcher, steuerte ein Bonmot bei, das zeigte, dass aus seiner Sicht dieser Tag keineswegs wie jeder andere war: Er zitierte einen Witz, nach dem ein Verurteilter am Montag beim Gang zum Scharfrichter zu diesem sagt: „Diese Woche fängt ja gut an.“ Insofern fange der erste Tag des Jahres 1975 für Bissingen gut an, so Silcher.
Bietigheim-Bissingen Vor 50 Jahren: Mit Empfang in die gemeinsame Zukunft
Am 1. Januar 1975 fand im Kronenzentrum die erste Veranstaltung der neuen Bindestrich-Stadt statt.
Kennenlernen bei Wein und Brezel
Die Wunden der Schlachten, die zuvor um den Zusammenschluss Bietigheims und Bissingens geschlagen worden waren, waren also noch frisch. Umso mehr sollte der Stehempfang mit Gästen aus beiden Orten der erste Probelauf für das künftige Zusammenleben und Zusammenwirken in der Gesamtstadt sein, wie Mai im Kronenzentrum erklärte. Die Gäste sollten sich bei einem Glas Wein und einer Brezel persönlich näherkommen. Immerhin erklärte auch Silcher, der Zusammenschluss erfülle zwar nicht jede Hoffnung und sei eher eine Vernunft beziehungsweise Zwangsehe als eine Liebesheirat, werde aber nach einem Jahr sicherlich Früchte tragen.
In der Bietigheimer Zeitung war die im Zuge der Kommunalreform erfolgte Fusion, die sich über die Ergebnisse von Abstimmungen in Bissingen hinweg setzte, am Tag zuvor, dem 31. Dezember, mit einer Sonderbeilage gewürdigt worden. Titel: „Gemeinsam in die Zukunft.“
Grußwort von Filbinger
Darin schrieb Ministerpräsident Hans Filbinger in einem Grußwort unter anderem, die Bildung der neuen Stadt Bietigheim-Bissingen führe unter gleichberechtigter Berücksichtigung der Belange der Bissinger Bevölkerung zu „einer leistungsfähigen kommunalen Einheit“. Es würden die Voraussetzungen für „die Schaffung großzügiger Einrichtungen auf kulturellem, schulischem und sportlichem Gebiet wesentlich gefördert und die Bedeutung des Raumes Bietigheim-Bissingen als wirtschaftlicher Schwerpunkt im Norden des Landkreises Ludwigsburg erheblich gestärkt“.
Landrat Ulrich Hartmann erklärte, „vor allem die bauliche Entwicklung und die Lösung der Verkehrsprobleme haben es mit sich gebracht, in größeren Räumen denken zu müssen, für die gemeinsame Planungen nötig sind“. Das Zusammengehen von Bietigheim und Bissingen durch eine freiwillige Vereinbarung, noch kurz vor einer gesetzlichen Regelung, wie sie von einer Mehrheit der Gemeinderäte auf den Weg gebracht worden war, „musste eigentlich seit langem für jeden klar sein, der die rasche Entwicklung unserer Gemeinwesen in der Nachkriegszeit erlebt hat“, schrieb Hartmann.
Als wichtigste Aufgabe der neuen Stadt bezeichnete Bürgermeister Manfred List in einem Beitrag in der Ausgabe eine „Zukunftsorientierte Stadtentwicklungsplanung“. Die Ausgangslage sei gut: Sowohl bei den Schulen und Kindergärten als auch bei den Sportstätten sei die neue Gesamtstadt gut aufgestellt. Man habe ein Krankenhaus, mit dem Kronenzentrum eine Veranstaltungsstätte und verfüge über eine beachtliche Finanzkraft. Die Einwohnerzahl belief sich damals auf rund 34.000, davon entfiel rund ein Drittel auf Bissingen.
Mai wird Ehrenbürger
Mit dem Start in die gemeinsame Zukunft von Bietigheim und Bissingen ging zugleich die Ära von Oberbürgermeister Karl Mai dem Ende entgegen. Der Verwaltungschef, der mehr als 26 Jahre lang die Geschicke von Bietigheim geprägt hatte, kündigte bei der Silvesterfeier auf dem Marktplatz an, nicht mehr als Oberbürgermeister der neuen Stadt Bietigheim-Bissingen zu kandidieren. Der Gemeinderat bestellte ihn am 2. Januar übergangsweise zum Amtsverweser. Zu seinem Nachfolger sollte am 9. März 1975 der vorherige Bürgermeister Manfred List gewählt werden. Bei dem Empfang am 1. Januar wurde bekannt gegeben, dass Mai zum Ehrenbürger ernannt wurde.
Mai seinerseits stellte im Kronenzentrum fest, dass die neue Große Kreisstadt Bietigheim-Bissingen nun zur zweitgrößten Stadt im Kreis Ludwigsburg aufgerückt sei. Und gemessen an der Industriedichte und der Größe der Betriebe nehme man sogar den ersten Platz ein.