Bietigheimer berichtet über die Corona-Pandemie in seinem Heimatland Indien „Das größte Problem ist die Armut“

Von Jörg Palitzsch
Vinod Talgeri beobachtet die besorgniserregende Entwicklung auf dem indischen Subkontinent sehr aufmerksam. ⇥ Foto: Talgeri

In Indien steigen die Corona-Ansteckungszahlen weiter an. Vinod Talgeri spricht im BZ-Interview über Leben und Sterben in seinem Heimatland.

In Indien wütet Corona wie kaum in einem anderen Land auf der Welt. Die täglichen Ansteckungszahlen gehen in die Hundertausende, Sauerstoff ist Mangelware, die Toten werden auf öffentlichen Plätzen eingeäschert. Dr.-Ing. Vinod Talgeri aus Bietigheim-Bissingen wurde im indischen  Karwar geboren und kam mit 25 Jahren nach Deutschland. Talgeri ist ein ausgewiesener Kenner Indiens, er hält Vorträge und schreibt Bücher über den Subkontinent. Er glaubt, dass das Gesundheitssystem in Indien gerettet werden kann, die Überlebensrate steige langsam wieder an. „Das ist ermutigend“, sagt Talgeri im BZ-Interview zur Situation in seinem Heimatland.

Sie haben Freunde und Familienmitglieder in Indien. Wie erleben sie den Alltag in der Pandemie?

Vinod Talgeri: Meinen Familienmitgliedern und Freunden geht es den Umständen entsprechend zum Glück relativ gut. Sie gehören zur indischen Mittelklasse, was ein Privileg ist. Sie leben in einer Eigentumswohnung in der Industriegroßstadt Pune, wo auch viele deutsche Unternehmen  mit ihren Zweigniederlassungen präsent sind. In Pune wird der Corona-Impfstoff  Covishield hergestellt.

Wie ist die Situation in der Stadt?

Die Situation in Pune ist wie in vielen Großstätten Indiens. Es gibt Lockdowns mit  vollständigen Sperrungen von Büros, Geschäften, Universitäten und Schulen. Die Studenten und Schüler lernen online. Zur Zeit dürfen nur die Lebensmittelgeschäfte von 6 bis 11 Uhr öffnen. Außerhalb dieser Zeiten darf man nur aus triftigen Gründen die Wohnung verlassen.

Meine Familienmitglieder  bekommen alles, was sie für das tägliche Leben brauchen. Sie alle haben ihre zweite Impfstoffdosis bekommen.  Menschen ab 60+ Jahren bekommen alle wichtigen Dinge des täglichen Bedarfs per Telefonanruf vor die Haustür gestellt. Auf der anderen Seite bekommen die Unternehmer und  die Selbstständigen keine Hilfen vom Staat wie in Deutschland. Die meisten Inder haben einen großen Bekannten- und Freundeskreis, sie lieben das Sozialleben, was in diesen Pandemie-Zeiten leider eingeschränkt ist.

Religiöse Feiern, Wahlveranstaltungen und Hochzeiten fanden mit Tausenden von Menschen ohne Schutz statt. Wurde das Coronavirus in Indien unterschätzt?

Ja, Sie haben Recht. Das allerdings ist ein großes Problem. Indien ist ein tief traditionsreiches religiöses Land mit einer Pluralität von vielfältigen langen Traditionen, Wahlveranstaltungen sowie Hochzeiten.

Die Regierung versucht, mit allen Mitteln diesen populistischen Usus mit Teilerfolg einzudämmen. Allerdings muss man auch einräumen, dass alle diese festlichen und religiösen Prozessionen in einer langen religiösen Tradition von Jahrhunderten stehen.

Was tut die Regierung?

Die indische Regierung hat viele Dinge eingeschränkt und fordert kontinuierlich auch soziale Distanzierung, Händewaschen und das Tragen geeigneter Masken.   Manche religiösen Fanatiker würden lieber sterben als nicht an den Ritualen teilzunehmen. Es ist für die Behörden sehr schwierig, sie zu kontrollieren, wenn bestimmte uralte religiöse Feiern stattfinden. Politik und Wahlveranstaltungen werden ebenfalls mit großer Beteiligung aufgenommen.  Politische Parteien wollen keine Nachteile durch Verbote der religiösen Feste riskieren.

Derzeit infizieren sich in Indien mehr als 300 000 Menschen pro Tag. Wie ist die Reaktion der Menschen darauf?

Wir kennen die ständigen erschreckenden Höchstwerte bei Corona-Neuinfektionen in Indien. Korrekterweise muss man auch sagen, sie sind absolute Zahlen. Wenn man diese Zahl mit Neuinfektions-Zahlen (über 25 000 pro Tag) in Deutschland vergleicht, dann stellt man fest, dass die Zahlen in Deutschland in Relation viel höher sind. Denn Indien ist 15 Mal größer mit 1,3 Milliarden Menschen.

Aber das eigentliche Problem bei der Infektionsverbreitung in Indien ist die Armut bei der ärmeren Bevölkerungsgruppe und deren extrem engen Wohnverhältnisse. In den überbevölkerten Regionen ist die soziale Distanzierung leider nicht möglich.

Jetzt hat die zweite Welle  Indien sehr schwer getroffen. Die Mutation des Virus wurde nicht so früh erwartet. Diese Situation ist von Menschen in der indischen Mittelklasse mit extremer Geduld und Gelassenheit aufgenommen worden. Auf der anderen Seite wächst langsam auch die Zahl der Kritiker.

Kliniken sind überfüllt, infizierte Menschen werden abgewiesen und sterben, Sauerstoff fehlt. Kann das Gesundheitssystem in Indien noch gerettet werden?

Die große Menschenmenge macht Indien zu schaffen. Kliniken und Krankenhäuser sind total überfüllt, aber lokale Körperschaften, Nichtregierungsorganisationen wie Rotary, Lions und Giants helfen. Mittlerweile bekommen wir Hilfe aus dem Ausland unter anderem auch von Deutschland und USA. Die medizinische Versorgung und die Sauerstoffversorgung verbessern sich stetig.

Früher, vielleicht vor drei Jahren, dachte niemand, dass 60 Prozent  der Bevölkerung auf einmal krank werden würde, jetzt allerdings sieht  die Realität erschreckend anders aus. Das Gesundheitssystem in Indien wird definitiv in den nächsten Wochen gerettet. Das Wissen über die Notwendigkeit bestimmter grundlegender Gesundheitsleistungen wurde  von allen erkannt. Aber jetzt ist die Überlebensrate langsam wieder auf über 95 Prozent gestiegen. Das ist ermutigend.

Premierminister Narendra Modi sah die Pandemie bis vor kurzem besiegt. Hat der indische Staat Corona nicht bekämpft?

Wie bereits erwähnt, war das Land von Juli 2020 bis vor kurzem wieder zu einem fast normalen Leben zurückgekehrt. Aber die zweite Welle schlug ein und viele fingen sich das Virus ein. Meistens handelte es sich um Personen mit anderen Begleiterkrankungen, und viele sterben an einem Herzinfarkt und dachten, sich mit dem Virus infiziert zu haben.

Indien als Ganzes hat es nicht versäumt, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Einige überbevölkerte Regionen waren für die örtlichen Behörden einfach schwer zu kontrollieren. Es ist ein harter Kampf, Misserfolg oder Erfolg ist relativ.

Übrigens, nicht nur Ministerpräsident Modi, sondern auch viele andere Politiker aus verschiedenen Ländern haben weltweit  versucht und versuchen immer noch, das Virus zu bekämpfen und es unter Kontrolle zu bringen. Auch wir in Deutschland, trotzt höheren Lebensstandards, haben die Ziele nicht erreicht.

Welche Impfstoffe werden in Indien verwendet?

Es werden drei Impfstoffe verwendet: Covishield, Covaxin und Sputnik V.

Indien hat bis vor kurzem noch eine große Menge Impfstoff exportiert. Rächt sich das jetzt?

Ende 2020 wurde der Impfstoff in Länder exportiert, die mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert waren, als Indien vernachlässigbare Probleme hatte. Wir sollten uns daran erinnern, dass Covid viel später von Menschen nach Indien kam, die aus anderen Ländern nach Indien reisten.

Indien wollte in dieser Zeit den Nachbarländern und den unterentwickelten Ländern mit Spenden helfen. Das war eine humanitäre Hilfe, alles wurde in gutem Glauben getan. Niemand hatte damals erwartet, dass diese zweite Welle so heftig sein und sich schnell ausbreiten würde, so dass alle Vorhersagen und Planungen schief gingen.

Letztendlich wurde allen klar, dass das Virus ein völlig neuer Typ ist und seine Mutanten noch schlimmer sind. Inder glauben nicht, dass diese Situation wie eine göttliche Rache ist. Einige streng gläubige Inder glauben  allerdings  an individuelles „Karma“. Wenn also die Zeit kommt, die Erde zu verlassen, kann niemand eine Sekunde länger überleben als in seinem Schicksal.

Sie beraten deutsche Unternehmen in Indien und solche, die dort aktiv werden wollen. Auf was müssen diese Unternehmen in der aktuellen Situation achten?

Heute sind rund 2000 deutsche Unternehmen in Indien tätig und beschäftigen dabei direkt und indirekt rund 400 000 Mitarbeiter. Deutschland ist Indiens wichtigster Handelspartner in Europa und unter Indiens wichtigsten zehn Handelspartnern weltweit. Die jungen Unternehmen haben vielseitige Geschäftsmöglichkeiten in Indien. Darüber habe ich auch einige Bücher geschrieben.

Meine wichtigen Tipps wären: Zunächst abwarten bis wir die Corona-Pandemie besiegt haben. Erst danach sich richtig über das Land, Leute und Business-Möglichkeiten zu informieren.

Wird  die vor kurzem begonnene internationale Hilfe für Indien überhaupt ausreichen?

Die internationale Hilfebereitschaft ist riesig, wir sind sehr dankbar dafür. Wir hoffen, es wird Indien helfen, diese Pandemie  in den Griff zu bekommen. Nun müssen sich die Inder noch konsequenter an die Hygiene-Grundregeln halten.

Was muss Ihrer Meinung nach an erster Stelle  getan werden?

Erstens: Inder sollten die Hilfen aus dem Ausland optimal einsetzen. Zweitens: Die Bewohner, die in ärmlichen Verhältnisse leben, sollten mit hoher Geschwindigkeit geimpft werden, um dort zügig eine Herdenimmunität zu erreichen. Drittens: Langfristig braucht Indien einen höheren Gesundheitsstandard. Dort sollten die ausländischen Hilfen gezielt projektbezogen investiert werden.

 
 
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