Bilanz zur Leichtathletik-EM DLV-Boss Jürgen Kessing im Interview

Von Andreas Eberle
Der goldene Auftakt bei der EM in München: DLV-Präsident Jürgen Kessing beglückwünscht Richard Ringer zu seinem Überraschungscoup beim Marathon. Auch Generaldirektor Idriss Gonschinska (links) gehört zu den ersten Gratulanten. Foto: Imago/Sven Simon/Anke Wälischmiller

Nach der erfolgreichen Heim-EM in München zieht DLV-Präsident Jürgen Kessing im BZ-Interview Bilanz. Für Bietigheim-Bissingens OB bleibt aber das Weltniveau das entscheidende Kriterium.

Mit 16 Medaillen war die Heim-EM in München für den Deutschen Leichtathletik-Verband ein voller Erfolg. Entsprechend zufrieden zeigt sich der DLV-Präsident und Bietigheim-Bissinger Oberbürgermeister Jürgen Kessing mit dem Abschneiden. Im Interview spricht der frühere Zehnkämpfer über die Wiederauferstehung nach dem dem WM-Debakel, die Gänsehaut-Atmosphäre im Olympiastadion und die Vorbildfunktion der Stars.

Was war für Sie während der European Championships im Olympiastadion der aufregendste Augenblick?

Jürgen Kessing: Es gab viele, viele tolle Momente. Das fing mit den Marathonis an, bei denen Richard Ringer zum Abschluss einen sensationellen Sprint hingelegt hat und beide Staffeln Medaillen holten. Es folgte eine Sternstunde für die deutsche Leichtathletik: die magische Nacht mit der Aufholjagd von Niklas Kaul und Zehnkampf-Gold sowie das 100-Meter-Finale von Gina Lückenkemper. Genauso großartig waren der 5000-Meter-Lauf von Konstanze Klosterhalfen und der Abschluss am Sonntag – mit den Siegen von Julian Weber beim Speerwurf und unserer Damen-Staffel im Sprint. Die Woche war eine unglaubliche Werbung für unseren Sport.

16 Medaillen, davon sieben aus Gold, und zum ersten Mal seit 2012 wieder Platz eins im Medaillenspiegel einer EM – das muss Ihnen doch jetzt runtergehen wie Öl.

Das kann man so sagen. Genau das Gegenteil haben wir bei der WM in Eugene erlebt. Da hatten wir viele Krankheitsfälle und Verletzungen – und viele Medaillenaspiranten waren gar nicht erst dabei. Wir müssen trotzdem daran arbeiten, dass wir bei künftigen Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen deutlich besser abschneiden als zuletzt bei der WM.

Das heißt, das Fiasko in den USA vom Juli ist noch nicht vergeben und vergessen?

Wir haben uns nach der WM nicht nervös machen oder auseinanderdividieren lassen. Genauso wenig werden wir jetzt nach den vielen schönen Erfolgen in München abheben. Für uns hätte der Schwerpunkt schon auf der WM gelegen, denn dieses Level ist ausschlaggebend und der Maßstab – auch für die Förderung. Man darf nicht vergessen: Im Weltmaßstab kämpfen wir gegen fast 200 Nationen, in Europa sind es knapp 50. Das ist eine völlig andere Ausgangssituation. Die Differenz zur internationalen Spitze müssen wir überwinden.

Über welche Medaille haben Sie sich bei der EM am meisten gefreut?

Über alle – gerade weil die Situation vorher ja nicht so erfreulich war. Jede einzelne Medaille, aber auch jede gute Platzierung hat gutgetan. Außerdem hatten wir unheimlich viele vierte Ränge, Plätze von fünf bis acht, Halbfinalteilnahmen, persönliche Bestleistungen und Saisonbestleistungen. Es war insgesamt ein überzeugender Auftritt unserer Nationalmannschaft. Das Team war auf diese Europameisterschaft fokussiert und die meisten Athleten auch auf den Punkt fit.

Als Außenstehender hatte man den Eindruck, dass viele Athleten ihren Blick gar nicht so sehr auf die Weltmeisterschaft gerichtet haben, sondern nur auf die Heim-EM.

Diesen Eindruck konnte man aufgrund mancher Äußerung gewinnen. Es gibt viele Athleten, die gezeigt haben, dass man bei beiden Veranstaltungen gute Leistungen und Platzierungen bringen kann. Ich kann psychologisch aber nachvollziehen, dass der eine oder andere sich auf den Start in München konzentriert hat – mit dem eigenen Publikum im Rücken, der Familie vor Ort und in der eigenen Zeitzone. Der Heimvorteil hilft letztlich schon. Zu Hause ist die Katze immer auch am stärksten.

Viele Athleten waren begeistert von der Gänsehautatmosphäre im Stadion. Hat Sie die Stimmung als alten Hasen auch noch so berührt?

Dem kann man sich nicht entziehen. Der Funke ist von den Athleten zum Publikum übergesprungen und zurück. Ich war 1972 als 15-Jähriger in München dabei. Da war die Atmosphäre ebenfalls toll – auch wenn man das nach 50 Jahren vielleicht nicht mehr eins zu eins vergleichen kann. Ich habe die EM 1986 und die WM 1993 in Stuttgart erlebt und muss sagen: München hat mindestens das damalige Stuttgart-Feeling erreicht und lag vielleicht sogar noch etwas darüber. Was sich während der Woche im Stadion entwickelt hat, war fast schon eine Olympia-Stimmung. Es ist schade, dass so etwas in Stuttgart nicht mehr möglich ist.

Hoffen Sie, dass die EM hierzulande eine neue Begeisterung für die Leichtathletik weckt und die Vereine wieder mehr Zulauf bekommen?

An der Basis registrieren wir jetzt schon ein leichtes Anziehen der Nachfrage. Gerade junge Menschen, die wir besonders erreichen wollen, interessieren sich plötzlich wieder für Leichtathletik und den Leistungsvergleich. Junge Mädchen wollen gerne Weitsprung machen und Malaika Mihambo nacheifern, auch der Zehnkampf und Laufen stehen hoch im Kurs. Wir hoffen, dass so das eine oder andere Talent zu uns findet. Der Entschluss, eine Sportart mal auszuprobieren, ist aber nur der erste Schritt. Es kommt darauf an, dabei zu bleiben und durchzuhalten.

Welche Rolle spielen da Vorbilder?

Unsere Spitzenathleten sind da die besten Vorbilder – etwa eine Mihambo, die sich nach ihrer Corona-Erkrankung mit großem Willen zurückkämpft und dann noch EM-Silber gewinnt. Kurz vor der Siegerehrung im Hochsprung hat mir Tobias Potye erzählt, dass er als Siebenjähriger hier im Stadion war, einem Hochspringer zugeguckt hat und sich mit ihm dann auch fotografieren lassen hat. So sei bei ihm der Wunsch gereift, die Sportart selbst ausüben zu wollen. Und jetzt steht er selbst als Silbermedaillengewinner auf dem Treppchen. Das sind tolle Geschichten, die nur der Sport schreibt.

Wie finden Sie das Format mit neun Sportarten in einer Ausrichterstadt?

Schon vor Jahren habe ich beklagt, dass im Sommer immer nur Fußball zu sehen ist. Im Winter ist wochenlang kompakt der Wintersport zu sehen. An dieses Format lehnen sich die European Championships an. Gerade fürs Fernsehen ist das attraktiv: Die Pausen in der Leichtathletik können hier durch Einschübe von anderen Sportarten sehr gut überbrückt werden. Davon profitieren die Sportarten wechselseitig. Auf der anderen Seite muss man aufpassen, dass die Zeiten von außen nicht so dominiert werden, dass darunter die Leistungen leiden.

Mit Birmingham und Budapest stehen bereits zwei Bewerber für die nächsten Championships 2026 fest. Nach den Erfahrungen von München: Sollte die Leichtathletik auch künftig Teil des Mega-Spektakels sein?

Wir befassen uns mit dem Thema, wenn es so weit ist. Das wird frühestens im Frühjahr 2023 sein und wird dann auf europäischer Ebene entschieden – natürlich auch unter dem Eindruck von München. Abgesehen vom Schwimmen in Rom fand dort zum ersten Mal alles zusammen an einem Standort statt. Bei der Premiere 2018 wurden die Leichtathletik-Wettkämpfe allein in Berlin ausgetragen, die übrigen Sportarten waren in Glasgow. Die Frage ist, ob es überhaupt eine Stadt gibt, die die nötigen Rahmenbedingungen mitbringt, um so viele Sportarten unter einen Hut zu bringen. Nur dann macht es Sinn und Spaß, die Titelkämpfe wieder gemeinsam durchzuführen.

Vergleich WM und EM 2022

Zwei Medaillen, einmal Gold und einmal Bronze, hat das DLV-Team im Juli bei der Leichtathletik-WM in Eugene (Oregon, USA) geholt und damit nur den 19. Platz im Länderranking belegt – hinter fünf anderen europäischen Nationen: Polen, Großbritannien, Norwegen, Schweden und Belgien. Bei den European Championships in München war die Nationalmannschaft mit 16 Medaillen – je siebenmal Gold und Silber, zweimal Bronze – wesentlich erfolgreicher und landete im Medaillenspiegel auf Rang eins.

 
 
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