Es ist kalt an diesem Morgen, der Januarnebel liegt schwer in der Luft und taucht alles in einen grauen Schleier. Nicht die beste Stimmung, um Porträts im Freien zu fotografieren. Und die Gegend ist auch alles andere als fotogen: Julia Schlembach hat sich trotzdem den Bietigheim-Bissinger Bahnhof als Location ausgesucht. Aus Überzeugung, wie die 38-jährige Linken-Politikerin sagt, die im Wahlkreis Neckar-Zaber zur Bundestagswahl antritt. Bahnhöfe sind häufig soziale Brennpunkte. Genau das seien ihre Themen, sagt sie. Das liege auch an ihrer Herkunft.
Bundestagswahl Zwischen Obdachlosenhilfe und Ziergarnelen
Julia Schlembach will für die Linke in den Bundestag. Ihr Thema ist soziale Gerechtigkeit – das liegt auch an ihrer Herkunft.
Schlembach stammt aus Würzburg, die Mutter Krankenschwester, der Vater Elektriker. „Ich bin ein Arbeiterkind“, sagt sie. Zwar habe es der Familie an nichts gefehlt. Aber mit ihrem Studium sei sie statistisch eine große Ausnahme. „Bildung hängt in Deutschland immer noch vom Geldbeutel ab.“
Sozialarbeiterin und Referentin
Vielleicht auch deswegen studierte sie soziale Arbeit. Seit 2010 ist sie Sozialarbeiterin, „mit Leib und Seele“. Unter anderem beim Diakonischen Werk in Karlsruhe und der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart ist sie inzwischen Referentin bei der Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg.
Dafür fährt sie täglich von Spielberg, wo sie mit ihrem Partner wohnt, nach Stuttgart. Am Bahnhof in Bietigheim-Bissingen sehe sie jeden Morgen einen obdachlosen Mann. Sie kennt das Milieu, kennt die Geschichten der Menschen, die auf der Straße landen, hat lange in der Wohnungslosenhilfe in Stuttgart gearbeitet.
Obdachlos seien heute längst nicht mehr nur alleinstehende Männer, die den sozialen Halt verloren haben, sagt sie. „Es trifft auch immer mehr Frauen.“ Sie machten inzwischen ein Viertel bis ein Drittel der Wohnungslosen aus. Auch Familien seien immer häufiger betroffen.
Grund dafür seien die immer höher steigenden Mieten. „Wenn dann noch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder eine Trennung hinzukommt, kommen viele nicht mehr mit dem Geld aus“, sagt sie. Damit beginne oft der Weg in die Überschuldung und im schlechtesten Fall in die Wohnungslosigkeit. Auch wenn Baden-Württemberg und der Landkreis Ludwigsburg wirtschaftlich besser aufgestellt seien als andernorts, gebe es auch hier echte Armut. „Aber das ist ja kein gottgegebenes Gesetz, dass das so sein muss. Das will ich einfach nicht so hinnehmen.“ Seit 2021 ist sie daher Mitglied in Der Linken und hat eine steile Karriere in der Partei hingelegt: 2022 Vorstandsmitglied im Kreisvorstand, 2025 Bundestagskandidatin. Allerdings für eine Partei, die in den vergangenen Jahren häufig durch interne Streitereien auffiel, die in der Abspaltung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) endeten.
Kandidatin ist optimistisch
Die Umfragewerte sind entsprechend. Der Website dawum.de zufolge kann Die Linke derzeit mit 4,8 Prozent der Stimmen rechnen. In Baden-Württemberg liegt die Partei bei 3,9 Prozent. Schlembach ist trotzdem optimistisch: „Die Stimmung ist gut, das hört man auch von den Genossen.“ Das Ziel für die Bundestagswahl sei „fünf Prozent plus x“ und drei Direktmandate. Letztere würden reichen, damit die Partei, auch ohne die Fünf-Prozent-Hürde zu knacken, in den Bundestag einzieht.
Die meisten Aussichten darauf haben derzeit die Alt-Linken Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und der frühere thüringischen Ministerpräsident Bodo Ramelow. Dass sie selbst im Wahlkreis Neckar-Zaber ein Direktmandat holen kann, glaubt Schlembach hingegen nicht.
Person nicht im Vordergrund
Ist das nicht frustrierend so Wahlkampf zu führen? „Nein“, sagt die 38-Jährige. „Es geht ja nicht um mich als Person, sondern darum, eine starke soziale Opposition im nächsten Bundestag zu haben.“ Dafür wolle sie möglichst viele Stimmen gewinnen.
Dafür macht sie in so ziemlich jeder freien Minute klassischen Wahlkampf: Infostände, Haustürgespräche, Podiumsdiskussionen. Das sei ganz schön stressig, denn dieser Wahlkampf sei zwar kurz, aber dafür umso intensiver. Erholung findet sie im heimischen Spielberg, bei Spaziergängen an der frischen Luft, bei Hiphop-Konzerten, oder bei ihren Ziergarnelen. Die hat der Vater ihres Mannes, ein begeisterter Aquaristiker, gezüchtet. Inzwischen lebt auch eine Kolonie in Schlembachs Haus. Die bunten Tierchen seien entspannend anzusehen. Vor allem gilt: „Die sind sehr genügsam und pflegeleicht.“ Ein Vorteil im stressigen Wahlkampf.
Der endet für Julia Schlembach am 23. Februar voraussichtlich mit einer kleinen Wahlparty in Ludwigsburg. Am Tag danach werde sie sich gleich nach dem Aufstehen die aktualisierten Wahlergebnisse ansehen, „hoffentlich mit einem Zuwachs für die Partei.“
Und dann? Dann geht das Leben weiter. Mit dem Job. Und mit der Promotion, die sie nebenberuflich noch an der Hochschule Esslingen betreibt. Das Thema: Wie wichtig zeitnahe Hilfe für verschuldete Menschen ist.