Freudentaler an ALS erkrankt „Meine Welt dreht sich nun anders“

Von Thomas Gerick
Bei dem 38-jährigen Marco Schulz wurde eine seltene, aber unheilbare Krankheit diagnostiziert. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Nina versucht er diesen Schicksalsschlag zu bewältigen. Der Bus, von seinem Arbeitgeber gespendet, gewährlestet seine Mobilität.⇥ Foto: Thomas Gerick

Vor drei Jahren wurde bei Marco Schulz ALS diagnostiziert. Der 38-Jährige geht offen mit dieser unheilbaren Krankheit um und will aufklären.

Es beginnt im Januar 2017 bei Marco Schulz mit einem Zucken im linken Oberarm. Im Abstand einiger Wochen meldet sich das Muskelzucken wieder, dauert aber dann einige Tage an. Motorische Fähigkeiten lassen nach, Muskelschwäche kommt hinzu. Ein Ärzte-Marathon schließt sich an: Hausarzt, Neurologe, Umweltmediziner, alle rätseln, während sich die motorischen Störungen häufen. Schließlich erhält 38-jährige Familienvater in der Uni-Klinik Ulm Anfang September die niederschmetternde Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose. ALS – ein Todesurteil auf Raten. Denn die Krankheit ist nicht heilbar. Sie schwächt und lähmt die Muskeln. Hände, Arme und Beine sind ebenso betroffen wie die bulbären Muskeln und die Lungenfunktion. Damit sind Sprech-, Schluck- und Atmungsstörungen verbunden. Jeden Tag ein bisschen sterben. Die mittlere Überlebenszeit beträgt zwischen drei und fünf Jahren. Etwa 8000 Betroffene gibt es derzeit in Deutschland.

Appell gegen Selbstmord

Soweit die Fakten. Aus der Perspektive der jungen Familie, die in Freudental lebt, ist das persönliche Drama jedoch nur unzulänglich in Worte zu fassen. „Mehr als zehn Ärzte, Pfleger, Psychologen standen um mein Bett, als sie mich über die Diagnose informierten und appellierten, nicht Selbstmord zu begehen“, erinnert sich Marco Schulz. Seit diesem Zeitpunkt ist nichts mehr normal. „Meine Welt dreht sich nun anders – und doch muss der Alltag mit zwei kleinen Kindern auch weitergehen. Ein Dilemma, das häufig kaum auszuhalten ist.“

Marco Schulz lebt mit seiner Familie in Freudental. Er und seine Frau Nina gehen offen mit ihrem Schicksal um. Eltern, Freunde, Verwandte und Kollegen – alle reagierten ungläubig, geschockt, traurig und bieten ihre Unterstützung an, aber die Hilfsmöglichkeiten sind sehr eingeschränkt.

Viel Zeit mit der Familie

„Alles, was Sie noch erleben möchten – machen Sie es jetzt“, sagen die Ärzte. Meine Antwort ist: „Ich habe alles, was ich brauche und will – und möchte noch so viel Zeit wie möglich mit meiner Familie verbringen“, so der 38-Jährige. In der ersten Zeit sind die körperlichen Beschwerden noch beherrschbar, die Arbeit als Ingenieur noch ohne Einschränkungen möglich. Marco beginnt damit, die Gute-Nacht-Geschichten, die er den Kindern allabendlich erzählt, aufzuschreiben. Immer geht es in den erfundenen Geschichten um die Erlebnisse eines Marienkäfers. Diese sollen als Kinderbuch mit Illustrationen gedruckt werden, damit sie als Erinnerung für seine Familie weiterleben. Stück für Stück muss er in der Folge seine Hobbys aufgeben: Basketball, Fahrrad fahren, Joggen – das geht nicht mehr. Er fängt an zu malen. Aber nach einigen Monaten lassen ihn die Hände im Stich. Zwischenzeitlich pflastern Kollegen für ihn einen barrierefreien Weg rund um das Haus zur Terrasse. Außerdem ist nun eine Rampe zur Eingangstür nötig, und auch ein Treppenlift.

Beruflich erhält er eine Arbeitsassistenz zur Seite gestellt, das Büro wird barrierefrei. Das Arbeiten ist seine letzte Freiheit. Die Möglinger Software-Firma USU stattet ihn mit einem behindertengerechten Mercedes-Bus aus. Dieser war für einen an ALS verstorbenen Mitarbeiter angeschafft worden. „Das bringt mir eine Menge Autarkie zurück. Und ein Bus war schon immer mein Traum“, freut sich Schulz über das Mehr an Mobilität im Alltag.

Von vielen Seiten Unterstützung

Von vielen Seiten erhält die Familie Unterstützung, auch von Ämtern oder der Krankenkasse, welche die notwendigen Hilfsmittel wie Rollstuhl und Pflegebett unbürokratisch genehmigen. Der Hausarzt besucht ihn regelmäßig, hört zu, nimmt sich Zeit. Es sind die kleinen Dinge und Gesten, die guttun und helfen, jeden Tag auszuhalten. „ALS-Patienten haben zwei Gesichter“, meint Marco. „Eine Vorzeige-Version, wenn es gut geht, wenn man auch nach draußen gehen kann – und eine Rückseite voller Traurigkeit, Verzweiflung und Tränen. Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt ohne die Möglichkeit, auszusteigen.“ Auch das Zulassen von Hilfe fällt schwer. Aber Nina Schulz, die bislang Haus, Kinder und Marco versorgt, kommt an ihre Grenzen. Sie bekommt Hilfe von der Familie, und seit Januar unterstützt der Pflegedienst mehrmals wöchentlich.

Marco Schulz mag das Beisammensein – viel mehr als früher. ALS ist zu einem schlechten Hobby geworden. Denn es bestimmt nicht nur komplett den Alltag, es prägt auch die Gespräche mit Freunden und Nachbarn. Dauerhafte schmerzhafte Spastiken sind inzwischen an der Tagesordnung. „Es kann sein, dass mir die Krankheit irgendwann über den Kopf wächst. Und es gibt häufiger Situationen, wo ich überlege, dass ich nicht mehr will. Aber wenn man mich am nächsten Tag fragt, will ich leben“. 


ALS: Ursache noch unbekannt

Wie die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke informiert, ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) eine sehr ernste Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems. Sie ist seit mehr als 100 Jahren bekannt und kommt weltweit vor. Ihre Ursache ist mit Ausnahme der seltenen erblichen Formen bisher unbekannt.

Pro Jahr erkranken etwa ein bis zwei von 100 000 Personen an ALS. Die Krankheit beginnt meistens zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr, nur selten sind jüngere Erwachsene betroffen. Männer erkranken etwas öfter als Frauen (1,6:1). Die Häufigkeit der ALS scheint weltweit etwas zuzunehmen. Das Krankheitstempo ist bei den einzelnen Patienten sehr unterschiedlich, die Lebenserwartung ist verkürzt.

Die Krankheit ALS betrifft nahezu ausschließlich das motorische Nervensystem. Die Empfindung bei Berührung, Schmerz und Temperatur, das Sehen, Hören, Riechen und Schmecken bleiben in den meisten Fällen im Kranktsverlauf normal.

 
 
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