Gescheiterte Pläne Großingersheim im Erdölfieber

Von Uwe Mollenkopf
Eine Erdölraffinerie im sächsischen Leuna. Foto: /dpa

1960/61 sorgten Pläne zum Bau einer Raffinerie im Neckartal in der Gemeinde für Aufregung. Für die Anlage wurden über 100 Hektar Fläche gebraucht. Widerstand kam von den Landwirten.

Wer macht sich darauf einen Reim: Klein-Kuweit in Großingersheim“, dichtete im Jahr 1960 ein Bürger der Gemeinde kritisch-ironisch. Was ein wenig nach Fasching klingt, hatte damals einen ernsten Hintergrund. Im Sommer 1960 machte in der Gemeinde die Nachricht die Runde, im Neckartal solle eine große Ölraffinerie gebaut werden. Noch wusste nur ein ganz kleiner Kreis von Eingeweihten Genaueres, dennoch war das Thema in Vorgesprächen bereits weit gediehen. Der Ort befand sich gewissermaßen im Erdölfieber.

Wie die Archivarin Brigitte Popper recherchiert hat, sind die Raffineriepläne vor dem Hintergrund des Aufschwungs der Bundesrepublik Deutschland in den 50er- und 60er-Jahre zu sehen. Der Autoverkehr nahm damals zu, auch die Industrie brauchte Erdöl und Erdölprodukte, ebenso die Haushalte. Vor diesem Hintergrund entwickelte das deutsch-italienische Erdölkonsortium Südpetrol AG den Plan, Rohöl von Häfen im Mittelmeer mittels Pipelines nach Norden zu transportieren und dort in Raffinerien zu verarbeiten. Eine solche sollte im bayerischen Ingolstadt entstehen, mit einem Abzweig in den Stuttgarter Raum.

Interesse aus Stuttgart

Aber warum ausgerechnet in Großingersheim? Zum einen galt der Standort als günstig: Es gab einen schiffbaren Fluss und einen Autobahnanschluss in der Nähe, außerdem mit dem Bietigheimer Bahnhof eine Zuganbindung. Zum anderen vermutet Popper, dass auch persönliche Beziehungen eine Rolle gespielt haben konnten: Aus Stuttgart, das ein starkes Interesse an einer Raffinerie in der Region hatte, saßen damals der Baubürgermeister Professor Walther Hoss und der Direktor der Technischen Werke Dr. Heinrich Kaun im Landtag, ebenso wie der Großingersheimer Bürgermeister Karl Braun (SPD).

Bereits Ende April 1960 unternahm ein Gruppe, der Bürgermeister Braun, sein Stellvertreter im Gemeinderat Eugen Majer und der Pleidelsheimer Bürgermeister Hermann Keller angehörten, eine Besichtigungsfahrt zu einer Erdölraffinerie nach Venedig. Was sie dort sahen, schreckte sie offensichtlich nicht ab, denn ab 18. Juli wurde darüber im Großingersheimer Gemeinderat nichtöffentlich beraten. Braun betonte einerseits, dass die Gespräche und Planungen noch völlig ergebnisoffen seien, andererseits war er der Ansicht, es dürfe keine ablehnende Haltung zu der Industrieansiedlung eingenommen werden.

500 bis 600 Arbeitsplätze

Deren Umfang war gewaltig: Laut Enz- und Metterbote vom 24. September 1960 sollte die Anlage 200 bis 230 Millionen Mark kosten, rund 75 Hektar Land wurden dafür benötigt, außerdem sollte die Gemeinde noch 20 Hektar Gemeindeflächen beisteuern. Anderen Informationen nach betrug der Bedarf sogar 120 Hektar. Jedenfalls war es eine riesige Fläche, die nur zu erhalten war, wenn man über das Großingersheimer Wiesental hinaus noch weitere Flächen ins Auge fasste, wie es dann auch geschah. Sollte der Gemeinderat zustimmen, sollte die Raffinerie in zwei Jahren in Betrieb gehen, so der Plan. 500 bis 600 Personen sollten dort eine Beschäftigung finden.

Am 22. September beriet der Großingersheimer Gemeinderat in einer öffentlichen Sitzung über die Raffineriepläne (siehe Infokasten). Nach längerer Diskussion fiel das Votum mit sieben zu drei Stimmen klar für den Bau der Anlage aus. Im Oktober beschloss auch der Pleidelsheimer Gemeinderat mit acht zu zwei Stimmen, einer Erdölraffinerie „wohlwollend gegenüberzustehen“. Von der Anlage gingen keine Geruchsbelästigung oder andere nachteiligen Folgen aus, hieß es.

Plan: Altneckar zuschütten

Die Planungen konnten also weiterlaufen. Laut Popper wurde der Stuttgarter Baubürgermeister Walther Hoss mit der Verkehrserschließung beauftragt. Er schlug zur Erschließung eine Verbindungsstraße vom Bietigheimer Bahnhof bis zur Autobahn in Pleidelsheim vor, die entlang des Schöllbachs und des Riedbachs um Großingersheim herumführen und nördlich der Pleidelsheimer Straße den Neckar überqueren sollte. Für das Tal gab es die aus heutiger Sicht wahnwitzigen Überlegungen, den Altneckar von der Schleuse bis zum Geisinger Knie zuzuschütten.

Kritisch blieben hingegen die Landwirte, wie sich am 29. Dezember zeigte, als die Gemeinde Großingersheim in der SKV-Halle eine öffentliche Aufklärungsveranstaltung veranstaltete. Eingeladen waren 200 Grundstücksbesitzer aus Großingersheim und Pleidelsheim, die Grundstücke von der Straße Großingersheim – Pleidelsheim bis zur Markungsgrenze Geisingen/Beihingen diesseits und jenseits des Neckars hatten – ein Indiz dafür, wie raumgreifend die Pläne waren. Die Stimmung war jetzt gereizt: Man werde das Land nicht ohne Kampf abgeben, erklärte ein Teilnehmer.

Appell: nicht verkaufen

Kurze Zeit später, am 10. Januar 1961, beschlossen die Bauern in einer Sitzung im Gasthaus Rose, den Bauernverband mit ihrer Interessensvertretung zu beauftragen und appellierten an die Grundstücksbesitzer, nicht zu verkaufen. Das Problem für die Investoren: Ohne den nötigen Grunderwerb konnte das Bauvorhaben nicht realisiert werden.

Die Entscheidung fiel laut den Untersuchungen von Popper nach einer Besichtigungsfahrt am 22. Juni 1961: Zwei Manager der Südpetrol AG, der Stuttgarter Baubürgermeister Walther Hoss und die Bürgermeister von Großingersheim und Bietigheim, Karl Braun und Karl Mai, inspizierten die Großingersheimer Markung. Danach verlangten die Unternehmensvertreter von der Gemeinde entweder 100 Hektar zwischen Brandholz und Forst mit zusätzlich zehn Hektar im Neckartal als Baugebiet für eine Raffinerie oder das Projekt platze – was es dann auch tat. Die Raffineriepläne im Ort wurden zu den Akten gelegt.

1965: Fluss unter Naturschutz

Die Archivarin vermutet, dass der Südpetrol AG das Ganze bereits zu lange dauerte und sie mit anderen Gemeinden – unter anderem Esslingen – verhandeln wollte. Am Ende baute sie gar nicht in Baden-Württemberg, sondern errichtete 1964 nur eine Raffinerie in Ingolstadt – zum Glück für das Neckartal. 1965 wurde der Altneckar dann in dem Abschnitt, der für die Raffineriepläne zugeschüttet werden sollte, zum Naturschutzgebiet erklärt.

 
 
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