Über die Bietigheimer Enzbrücke fahren schon lange keine Autos mehr. Früher war sie Bestandteil der Staatsstraße/Bundesstraße 27. Vor 100 Jahren erließ die Stadt Bietigheim eine ortspolizeiliche Vorschrift über ein Überholverbot von Fuhrwerken und Kraftwagen auf der Enz- und der Metterbrücke. An beiden Brücken wurden Schilder „Überholen polizeilich verboten“ angebracht. Anlass für diese Maßnahme war ein tragischer Verkehrsunfall.
Geschichte in Bietigheim-Bissingen Ab 1925: Überholen auf der Brücke bei Strafe verboten
Nachdem eine Fünfjährige auf der Bietigheimer Enzbrücke von einem Auto überrollt worden war, erließ die Stadt ein Überholverbot. Dieses wurde zum Politikum.
Vom Kotflügel erfasst
Am 1. Juni 1925 gingen ein fünfjähriges Mädchen und ihre ältere Schwester auf dem schmalen Gehweg über die Enzbrücke, wobei das kleine Mädchen fatalerweise auf der Seite zur Fahrbahn hin ging. Wie immer sonntagnachmittags war der Fußgängerverkehr sehr lebhaft. Auf der Enzbrücke waren die Fuhrwerke und Kraftwagen gezwungen, ganz scharf die rechte Fahrbahnseite einzuhalten. Beim Vorbeifahren erfasste ein Auto mit seinem Kotflügel die Fünfjährige, die unter das Fahrzeug geriet, überfahren und dabei tödlich verletzt wurde.
Bei der Stadtverwaltung machte man sich danach Gedanken darüber, wie man die Verkehrssicherheit auf den Brücken verbessern könne. Stadtschultheiß Christian Schmidbleicher reagierte schnell und ordnete am 18. Juni ein Überholverbot auf der Enzbrücke an, das am 13. August 1925 erneuert wurde. An diesem Tag unterzeichnete Schmidbleicher die ortspolizeiliche Vorschrift „Das Überholen von Fuhrwerken und Kraftwagen auf der Enzbrücke und der Metterbrücke ist verboten.“ Dem hatte der Gemeinderat am gleichen Tag einstimmig zugestimmt.
Oberamt stellt sich quer
Das Oberamt Besigheim erklärte die Vorschrift am 26. August 1925 für vollziehbar, sodass das Stadtschultheißenamt sie am 31. August 1925 im Enz- und Metterboten öffentlich bekanntmachen konnte. Nach Paragraf 366, Nummer 10, des Strafgesetzbuches konnte ein Übertreten des Überholverbots mit einer Geldstrafe geahndet werden.
Als aber am 28. Juli 1926 die neue „Verordnung über Kraftfahrzeugverkehr“ im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden war, kamen bei den Behörden Bedenken auf, ob das von Bietigheim angeordnete Überholverbot noch galt. Denn entsprechend der neuen reichsrechtlichen Verordnung war das Überholen an unübersichtlichen und engen Stellen verboten. Eine Stellungnahme der Stuttgarter Ministerialabteilung für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung vom 30. November 1926 brachte keine eindeutige Klarheit. Trotzdem setzte das Oberamt Besigheim am 8. Dezember 1926 die ortspolizeiliche Vorschrift außer Wirksamkeit.
Beschwerde erhoben
In seiner Sitzung vom 16. Dezember 1926 beschloss der Gemeinderat, gegen die Außerkraftsetzung Beschwerde zu erheben. Die neue reichsrechtliche Vorschrift sei nicht ausreichend, um den Schutz der Passanten der Enz- und Metterbrücke zu gewährleisten. Nicht etwa Enge oder Unübersichtlichkeit der Fahrbahn hätten zum Erlass der ortspolizeilichen Vorschrift geführt, sondern die Tatsache, dass bei der Enzbrücke die beidseitigen Gehwege außerordentlich schmal und bei der Metterbrücke überhaupt keine Gehwege vorhanden seien. Stadtschultheiß Schmidbleicher wurde beauftragt, die Beschwerde beim Oberamt vorzubringen.
Bis zum Innenministerium
Dieses legte den Vorgang dem Württembergischen Innenministerium vor. Die Ministerialbeamten verwiesen zwar grundsätzlich auf die geltende reichsrechtliche Bestimmung und vertraten auch die Auffassung, dass die ausreichende Fahrbahnbreite ein generelles Überholverbot nicht rechtfertigen würde, kamen allerdings wegen der besonderen örtlichen Situation an der Enzbrücke und dem fehlenden Gehweg an der Metterbrücke zum Ergebnis, dass die ortspolizeiliche Vorschrift im Interesse der Verkehrssicherheit geboten sei. Deshalb setzte das Innenministerium mit Erlass vom 14. März 1927 die gegenteilige Verfügung des Oberamts Besigheim vom 8. Dezember 1926 außer Kraft, sodass die örtliche Regelung vom 13. August 1925 wieder angewendet werden konnte.
Offensichtlich waren die Beamten des Besigheimer Oberamts dadurch wohl in ihrer Ehre gekränkt, denn sie bemängelten plötzlich die an beiden Brücken angebrachten Verbotstafeln. Angeblich hätten sich ortsfremde Kraftfahrzeugführer, die zur Anzeige gebracht wurden, damit entschuldigt, sie hätten keine Verbotstafel gesehen. Bietigheim möge deshalb neue, ins Auge fallende und mit größerer Schrift versehene Verbotstafeln anbringen. Bietigheim blieb davon unbeeindruckt. Am 31. März 1927 beschloss der Gemeinderat: „Die angebrachten Verbotstafeln sind genügend.“
Sprengung durch Wehrmacht
Mit dem Inkrafttreten der Reichsstraßenverkehrsordnung am 1. Oktober 1934 wurde die Bietigheimer Ortspolizeivorschrift unwirksam. Regelungen und Bestrafungen bei Gefährdung des Verkehrs richteten sich nun ausschließlich nach der neuen Straßenverkehrsordnung. Auf Anordnung von Bürgermeister Gotthilf Holzwarth vom 5. November 1935 wurden die angebrachten Verbotstafeln an beiden Brücken entfernt. Die zwischen 1461 und 1467 vom Stuttgarter Baumeister Aberlin Jörg errichtete und 1904 verbreiterte alte Enzbrücke wurde am 8. April 1945 beim Rückzug der Wehrmacht gesprengt.