Handball EM-Prognosen fallen den Experten so schwer wie nie

Von Sebastian Klaus
Als „Wundertüte“ bezeichnen Experten die Nationalmannschaft. Neue Gesichter vor der EM sind unter anderem Christoph Steinert, Lukas Zerbe und Luca Witzke (von links).⇥ Foto: Gerhard Koffler via www.imago-images.de

Eine völlig veränderte deutsche Mannschaft und immer wieder neue Coronafälle: Die Europameisterschaft mutiert zur „Wundertüte“.

Vom sportlichen Wert ist sie sogar noch höher einzuschätzen als Weltmeisterschaften oder gar Olympische Spiele. Die Rede ist von der Handball-EM der Männer, die am heutigen Donnerstag in Ungarn und der Slowakei beginnt. Noch bis zum 30. Januar treten die besten Auswahlteams des Kontinents gegeneinander an, um zum bereits 15. Mal den Europameister auszuspielen. Die Deutsche Nationalmannschaft startet am Freitag (18 Uhr) gegen Belarus ins Turnier. Die BZ hat sich bei Handball-Experten aus der Region einmal umgehört, wie sie die Leistungsstärke des deutschen Teams einschätzen und wer ihrer Meinung nach am Ende ganz vorne liegen dürfte. Doch in einer Sache waren sich die Kenner des Sports alle einig: So schwer wie in diesem Jahr war eine Prognose noch nie.

„Meine ehrliche Meinung ist, ich habe überhaupt keine Ahnung, wie diese Europameisterschaft verlaufen wird“, bringt Iker Romero (Foto: Marco Wolf) die Gemütslage Vieler auf den Punkt. Der Trainer der Zweitliga-Männer der SG BBM Bietigheim hatte als Spieler mit der spanischen Nationalmannschaft 2005 die Weltmeisterschaft gewonnen, ein Jahr später folgte Silber bei der EM in der Schweiz. Während zu Romeros aktiver Zeit die Favoritenrolle bei den Turnieren relativ klar verteilt gewesen war, sieht das in diesem Jahr komplett anders aus. Schuld ist, na klar, die Pandemie. Zahlreiche Nationen beklagen Coronafälle in ihren Reihen. So sind unter anderem die Bundesliga-Stars Domagoj Duvnjak (Kroatien), Jannick Green (Dänemark) oder Hampus Wanne (Schweden) betroffen. Zudem mussten im Vorfeld des Turniers zahlreiche Vorbereitungsspiele aufgrund von diversen Corona-Erkrankungen abgesagt werden. „Die Vorbereitung vieler Teams ist komplett durcheinandergeraten“, sagt Romero, dessen eigenes Team Spanien in der Gruppe E in Bratislava auf Schweden, Tschechien und Bosnien-Herzegowina trifft. „Aufgrund von Corona kann bei der EM so viel passieren, da kann ich keinen Tipp abgeben“, sagt der SG BBM-Coach.

In die gleiche Kerbe wie Romero schlägt auch Alexandra Zäh (Foto: TSV Bönnigheim). Für die Kreisläuferin des Oberligisten TSV Bönnigheim könnte die Europameisterschaft zu einem Muster ohne Wert mutieren. „Ich sehe es kritisch, wie die Leistungen der einzelnen Mannschaften zu bewerten sind, da viele wichtige Spieler entweder ganz fehlen oder zum Teil erst im Laufe des Turniers einstiegen werden“, sagt Zäh. „Das Statement von Bob Hanning, dass vermutlich das Team mit den wenigsten Coronaausfällen das Turnier gewinnt, könnte zutreffen“, vermutet die Kreisläuferin, die sich dennoch die Spiele der deutschen Mannschaft im Fernsehen anschauen wird. „Ich drücke dem deutschen Team die Daumen. Aber wichtiger als ein gutes Abschneiden bei der EM ist, dass alle wieder gesund und fit zurückkommen.“

Nur das Beste wünscht auch Markus Gaugisch (Foto: Marco Wolf) der deutschen Auswahl. Und der Coach der Bundesliga-Frauen der SG BBM Bietigheim hält große Stücke auf die Mannschaft von Trainer Alfred Gislason, die er zuletzt beim Tag des Handballs Anfang November letzten Jahres in Düsseldorf vor Ort gesehen hatte. „Ich traue dem Team auf jeden Fall einiges zu, weil es gut vorbereitet sein wird und sicherlich den nötigen Teamspirit entwickeln wird“, schätzt der gebürtige Göppinger. Eine Überraschung wie 2016, als Deutschland mit einer Mannschaft voller weitgehend unbekannter Spieler sensationell den EM-Titel holte, hält Gaugisch allerdings für „schwer, weil die europäische Spitze sehr eng besammen ist.“ Die üblichen Verdächtigen Frankreich, Norwegen oder Dänemark dürften deshalb wieder den Titel unter sich ausmachen. „Insgesamt ist es schwer zu sagen, weil Corona eine gewichtige Rolle spielt. Deutschland kann aber ein gutes Turnier spielen“, sagt Gaugisch.

Als klassische „Wundertüte“ sieht dagegen Domenico Ebner (Foto: Marco Wolf) die deutsche Mannschaft. Der ehemalige Torhüter der SG BBM Bietigheim, der im Ellental seinen Durchbruch schaffte und seit 2019 beim Bundesligisten TSV Hannover-Burgdorf unter Vertrag steht, ist seit gestern mit der italienischen Nationalmannschaft auf den Faröer Inseln unterwegs, wo der 27-Jährige ein Qualifikationsturnier für die WM 2023 spielt. Ein wenig hatte Ebner noch darauf spekuliert, dass seine Italiener für die stark von Corona gezeichneten Serben bei der EM nachrücken könnten, doch das Thema scheint inzwischen vom Tisch zu sein. „Dänemark ist für mich der Topfavorit, weil sie die besten Strukturen und das beste Team haben. Dahinter sehe ich Frankreich, Schweden und Norwegen. Bei Deutschland muss man sehen, wie sich die Abwehr in der Kürze der Zeit findet“, analysiert Ebner. „Es wird auf jeden Fall eine ganz spezielle EM, wo Corona noch für einige Unruhe sorgen kann.“

 
 
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