Immer mehr Schüler haben psychische Probleme „Schule muss zum Sozialort werden“

Von Gabriele Szczegulski
Claudya Ribeiro (links) und Nina Großmann von der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Ludwigsburg: Die Schule muss vom Ort des reinen Wissenstransfers mehr zu einem Gemeinschaftsort mit sozialen Entwicklungsmöglichkeiten werden.⇥ Foto: Martin Kalb

Angesichts der Folgen auf das Psychische Wohl von Schülern sagen Nina Großmann und Claudia Ribeiro von der Schulpsychologischen Beratungsstelle, dass Schule sich ändern muss.

Sieben von zehn Schülern haben eine beeinträchtigte Lebensqualität und Anzeichen von Stress durch den Lockdown“, sagt Nina Großmann. Die Diplom-Psychologin leitet die Schulpsychologische Beratungsstelle in Ludwigsburg und ist Vorsitzende des Landesverbandes Schulpsychologie Baden-Württemberg.  Davor, so weiß Claudya Ribeiro, stellvertretende Fachbereichsleitung, seien es drei von zehn Schülern gewesen, laut der Copsy-Studie (siehe Infokasten). „Es gibt mehr Schüler mit Depressionen, suizidalen Gedanken und Selbstverletzungstendenzen als vor dem Beginn der Maßnahmen. So sind inzwischen 30  Prozent aller Schüler psychisch auffällig“, sagt Großmann.

Außergewöhnliche Krisen

Die Schulpsychologische Beratungsstelle in Ludwigsburg ist Teil des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg. Sie ist Anlaufstelle für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern bei Problemen in Verbindung mit der Schule, zum Beispiel bei Lernproblemen, Schulverweigerung, Mobbing, aber auch bei Hochbegabung. Schulpsychologinnen unterstützen auch, wenn in der Schule eine außergewöhnliche Krisensituation vorliegt. Nina Großmann war zum Beispiel in Winnenden nach dem Amoklauf eines Schülers im Kriseneinsatz vor Ort.

Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle sind zuständig für alle Schülerinnen und Schüler im Landkreis. „Das sind gerade im Schnitt 11 000 Schüler auf eine Vollzeit-Mitarbeiterin“, so Großmann. „Wir bekommen derzeit nur die Spitze des Eisbergs mit, der Unterstützungsbedarf ist wesentlich höher.“

Nach Corona müsse man jetzt gemeinsam nach Lösungen suchen, um die Langzeitfolgen so gut wie möglich abzufedern. „Ich bin aber optimistisch, da in der Öffentlichkeit derzeit ein großes Bewusstsein für die Nöte der Schüler vorhanden ist. Es müssen jetzt viele Ressourcen eingesetzt werden, um den Kindern und Jugendlichen wirklich helfen zu können“, so Großmann. „Laut aktueller Studien fühlen sich derzeit viele Jugendliche allein gelassen, verunsichert und nicht ernst genommen.“

Das Fehlen von sozialen Kontakten, die das Selbstbewusstsein einzelner und den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken, lässt immer mehr Schüler „in schwarze Löcher stürzen oder in eine Online-Welt abdriften“, so Ribeiro. Eltern könnten oft nur zum Teil unterstützen, da sie meist auch durch die Situation belastet sind, auch Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter und -arbeiterinnen stoßen an ihre Grenze.

„Viele Schüler hatten auch schon vor den sozialen Einschränkungen Probleme, die sich jetzt verstärkt haben“, so Ribeiro. „Schule war noch nie der Ort des puren Wissenstransfers und jetzt durch die Pandemie ist die Schule noch mehr gefordert“, sagt Großmann. Man merke nun, dass die Schule einen großen Einfluss auf die Entwicklung, Stärkung der Resilienz sowie das psychische Wohl der Schüler habe. Sie beeinflusse Sozialkompetenz sowie Gemeinschaftssinn. „Die Schule leistet als Lebensraum einen unverzichtbaren Beitrag“, so Großmann. Deshalb seien die Bemühungen, die Schüler jetzt unter Druck zu setzen, um eventuelle Bildungslücken schnellstmöglich zu schließen, der falsche Ansatz. „Gemeinsame soziale Projekte, Motivationsübungen, aber auch einfach nur Grillen im Klassenverband sind zielführender“, so Ribeiro. „Das Zauberwort heißt Resilienz, also die Stärkung der psychischen und sozialen Widerstandskraft. Die Schulbehörden und Lehrkräfte müssen sich bewusst machen, dass es jetzt darum geht, die Schüler und deren Gemeinschaft zu fördern.“

Deswegen werden in der Beratungsstelle derzeit Programme erarbeitet, mit denen die Mitarbeiterinnen an die Schulen gehen wollen. „In der Regel kommen Schüler, Eltern und Lehrkräfte auf uns zu, wenn es Probleme gibt, in der jetzigen Situation möchten wir noch mehr Unterstützungsangebote bereitstellen“, erklärt Großmann.

„Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich teilweise durch die schwierige Unterrichtssituation und die zahlreichen zusätzlichen Aufgaben stark gefordert. Auch hier bieten wir eine Stärkung durch Gespräche an“, sagt sie. „Schüler und Lehrer müssen jetzt gemeinsam einen sozialen Ort schaffen. Wir müssen die Sozialkompetenz ausbauen, den Zusammenhalt fördern und der Sensibilität füreinander Vorrang geben“, sagt Ribeiro.

Einige Schüler hätten keine Motivation, Fälle von Schulunlust bis hin zur Verweigerung nahmen nach dem ersten Lockdown stark zu.  „Hier bieten wir niederschwellige Beratung an, damit die Schülerinnen und Schüler die Schule als einen sicheren, sozialen Ort wahrnehmen können“, so Großmann. Zukunftsvisionen müssten entwickelt, Pläne geschmiedet, Ängste besprochen werden und die Freude wiederentdeckt werden. Nina Großmann: „Wenn es ginge, würde ich jede Klasse auf eine Klassenfahrt schicken. Das würde helfen.“

 
 
- Anzeige -