Eine Weggabelung ist im Zentrum des Bilds. Eine Straße führt auf die Golden Gate Bridge im Hintergrund, die andere biegt nach rechts ab, ins weihnachtlich verschneite Ingersheim, ein Autobahnschild weist mit Kilometerangaben den Weg: links weit in die Ferne (die doch irgendwie ganz nah wirkt), rechts nach Bietigheim-Bissingen und Ingersheim.
Ingersheim Ortschronik in Tusche
Winfried Cramers Illustrationen des Amtsblatts zeigen seit 50 Jahren immer neue Perspektiven von der Gemeinde. Nun sind sie in einer Ausstellung im Rathaus zu sehen.
Das Deckblatt des Amtsblatts ist eines von vielen Werken von Winfried Cramer. Der Begriff der Heimat, wie auch immer man sie definieren mag, auf diesem Bild im Kontrast zu der weiten Welt Amerikas, ist ein wiederkehrendes Motiv seiner Werke – die nun seit fast 50 Jahren das Ingersheimer Amtsblatt zieren, seit 1976. Nun sind sie im Rathaus zu sehen: Am vergangenen Freitag wurde die Ausstellung eröffnet.
Werke stiften Identität
Für Bürgermeisterin Simone Lehnert ist Cramer dabei weit mehr als der bloße Gestalter des Amtsblatts: Es gelinge ihm jedes Mal, „auf feine Art, Ingersheim in ein neues Licht zu rücken“, jedes Mal entdecke sie etwas Neues, wenn sie an den Bildern vorbeikomme, die auf den Fluren des Rathauses hängen. Mit seinen Werken, aber auch mit persönlichen, eingefügten Botschaften: etwa während der zweiten Adventszeit der Corona-Pandemie, als er an den Zusammenhalt appellierte. Damit sei er einer der „Menschen, die Menschen miteinander verbinden“, so Lehnert. Wie der Anker im Wappen der Gemeinde gebe er mit seiner Kunst und seiner Botschaft Halt und stifte Identität.
Wenn er eine Idee habe, müsse er die auch bald umsetzen, „konsequent durchziehen“, sagt der ehemalige Lehrer und Rektor über den Prozess, in dem seine Werke entstehen. Dann probiere er aus, wie es am besten passe, der Entwurf wird mit Bleistift angefertigt, dann der Text eingefügt, so wird der Entwurf immer genauer – und schließlich ist ein neues Motiv für das Amtsblatt fertig.
So entstand das Weihnachtsmotiv mit der Golden Gate Bridge, das Bild mit der Turnerin im Vordergrund, als im Jahr 1998 mehrere Sportvereine Jubiläum feierten – die Vereine kamen damals extra auf ihn zu wegen des Motives – und auch das Bild zur Ernte, in dem der Text in die verlängerte Ähre eingesetzt ist. Auch zur Partnerschaft mit der gleichnamigen Partnergemeinde Ingersheim im Elsass zeichnete er, neben der Amtsblattseite auch als Geschenk einen Eiffelturm, der wie ein Partykracher aufplatzt.
Die Einweihung des Rathausplatzes 1987, die Schloss-Konzerte, die Tage der Einschulungen, Veranstaltungen der Kirchen, der Feuerwehr, der Landfrauen, des Sports, Feste und Feiern, das Kinderferienprogramm, welches ihm besonders am Herzen liegt und das er 42 Jahre leitete, sowie die Verabschiedung von Bürgermeister Martin Maier im Jahre 1996 – Cramers Bilder sind durchaus eine Chronik der Gemeinde.
Konzentration aufs Wesentliche
Neben dem verschneiten Hindenburgplatz – wieder ein Weihnachtsmotiv – sind auch die Schlösser im Umkreis abgebildet: Man wohne ja in einem Kulturkreis hier in Ingersheim, mit seinen zwei Ortsteilen unterhalb und oberhalb der Steillage, zwischen Enz und Neckar. Es sei ihm ein Anliegen, so Cramer, mit seinen Werken den Leuten auch zu zeigen: „Das ist unsere Heimat.“
Der Künstler, der neben Bleistift-, Aquarell-, Acryl- und Tuschebildern auch unzählige Arbeiten aus Holz geschaffen hat, Reliefs, Skulpturen und Plastiken, konzentriert sich bei seinen Werken für das Amtsblatt auf das Wesentliche: Die Tuschezeichnungen in Schwarz-weiß blenden Kontraste aus und konzentrieren sich auf Komposition, Perspektive, Form, Licht, Schatten.
„Auf den Zeichnungen ist oft eine optische Mitte zu erkennen, auch eine Streuung, vor allem, wenn sich Landschaften in der Weite des Raumes verlieren, etwa bei der Sicht von Groß- nach Kleiningersheim“, analysierte Jörg Palitzsch – der Journalist und ehemalige Redakteur der BZ ist mit dem Werk Cramers gut vertraut. „Alle Zeichnungen vermitteln einen sehr nahen Eindruck von Heimat“, resümiert er.
Ein Stück Erinnerungskultur
„Vieles kommt wieder in den Sinn“, gestand Cramer bei der Eröffnung der Ausstellung, Erinnerungen würden wieder wach – man habe mit der Ausstellung auch ein Stück Erinnerungskultur im Rathaus. Mit Blick auf das Weltgeschehen fordert der Künstler die Gemeinde auf: „Wir haben heute mehr denn je die Aufgabe, füreinander da zu sein.“