Interview mit DLV-Präsident Jürgen Kessing Kessing: Es fehlt der Erfolgswille

Von Niklas Braiger
Jürgen Kessing reist als DLV-Präsident auch zu den Olympischen Spielen nach Paris. Foto: /Martin Kalb

Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) äußert sich zur sportlichen Situation in Deutschland vor den Olympischen Spielen.

Jürgen Kessing ist nicht nur Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, sondern auch als ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) tätig. Vor dem Start seiner Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen in Paris – die Leichtathleten beginnen erst am 1. August – blickt er auf das Event und erzählt, was er den Teilnehmern zutraut.

Hallo Herr Kessing. Wie aktiv werden Sie die Spiele in Paris verfolgen? Reisen Sie als DLV-Präsident vielleicht sogar nach Frankreich?

Jürgen Kessing: Ja, natürlich, ich werde die ersten paar Tage pendeln, weil ich immer noch ein paar Termine hier in Bietigheim habe. Aber dann ab Mitte nächster Woche bin ich zumindest für die Zeit, in der die Leichtathletik stattfindet, komplett in Paris.

Wie aktiv verfolgen Sie sonst den Rest der Spiele?

Da ich sehr sportaffin bin, will ich so viel wie nur geht. Man kommt dank der Faszination des Sports aus dem Nachverfolgen kaum weg. Wir hatten die Europameisterschaft, da habe ich auch mehr Spiele angeschaut als geplant.

Wenn nicht gerade Leichtathletik auf dem Programm steht, welche Sportart in Paris schauen Sie sonst?

Je nachdem, was schnell erreichbar ist. Tischtennis allemal, da haben wir mit Annett Kaufmann eine Bietigheim-Bissingerin am Start. Ich bin sehr handballinteressiert, Basketball und auch Turnen stehen auf meiner Wunschliste ganz oben. Und wenn es geht auch mal Rudern oder Kanu.

Wie sehen Sie die aktuelle Lage der Leichtathleten? Nach der WM 2023 in Budapest meinten Sie, dass man bis 2028 Deutschland wieder als Top-Fünf-Nation etablieren will.

Wie haben ja erst 2024, bis 2028 ist noch etwas Zeit. Wir haben das „Team Future 28“ aufgestellt, mit vielen jungen, hoffnungsvollen Talenten, die sich bis jetzt noch gar nicht für Paris haben qualifizieren können, weil man Zeit für Entwicklung braucht. Wir haben auch erkannt, dass wir die Athletinnen und Athleten möglichst gesund an den Start bringen müssen. Das gelingt uns jetzt in Paris hoffentlich besser als in Budapest, wo doch viele Kranke und Verletzte zu beklagen waren, aber es zum Teil auch noch Corona-Nachwirkungen gab. Wobei wir auch jetzt wieder einige Fälle haben, die sich infiziert haben. Das sind die Dinge, mit denen wir zu kämpfen haben. Wir hoffen aber, dass viele Leistungsträger, die in Budapest gefehlt haben, in Paris in guter Form sind.

Trauen Sie den Teilnehmern Medaillen zu?

Wir wünschen uns natürlich Medaillen, es gibt auch einige heiße Eisen im Feuer. Wenn Malaika Mihambo eine gute Form hat und ihre Nervenstärke ausspielt, dann ist sie immer für eine Medaille gut. Wir wünschen uns bei den Zehnkämpfern, dass Leo Neugebauer die richtigen Lehren aus Budapest gezogen hat und dass Niklas Kaul gut durchkommt, dann haben wir auch da zwei Medaillen-Kandidaten. Mit Julian Weber im Speerwerfen haben wir eine Option, aber auch unsere junge Kugelstoßerin aus Mannheim Yemisi Ogunleye hat eine Chance. Und dann gelingt vielleicht ja auch noch einer Athletin, einem Athleten oder den Staffeln eine positive Überraschung, auf die wir schon seit Jahren warten. Denn das Potenzial ist da.

Hatte, beziehungsweise hat die Leichtathletik ein Nachwuchsproblem? Oder haben Sie keine Bedenken für eine gute Zukunft des Sports?

Die Entwicklung bei den einzelnen Jahrgängen ist keine gerade, die ist immer wieder in Wellen. In Peking hatten wir nur eine Medaille und in London 2012 waren wir auch nicht sonderlich erfolgreich. Aber dann gibt es wieder ein paar Jahrgänge, die stärker und breiter aufgestellt sind und die Hoffnung aufkommen lassen. Wenn sie gesund bleiben und den Übergang von den Junioren zu den Aktiven gut schaffen, dann kann der ein oder andere mal wieder in der Weltspitze ankommen, wobei die mittlerweile deutlich breiter aufgestellt ist. Zurzeit sind wir bei den U18, U20 und U23 aber sehr stark aufgestellt.

Mit Elisa Lechleitner und Aileen Kuhn hat das LAZ Ludwigsburg zwei sehr gute und junge Athletinnen in den eigenen Reihen, die leider die Olympia-Teilnahme nicht geschafft haben. Trauen Sie beiden zu, dass sie sich in der Zukunft für das Event qualifizieren?

Ich beobachte beide, wir haben ja im Umfeld generell viele talentierte Athleten. Sie müssen durchhalten und gesund bleiben. Sie müssen sich weiter entwickeln und dürfen nicht zu früh zu starke Leistungen bringen, sonst ist die Entwicklung auch gehemmt. Das hatten wir schon, dass Athleten sehr jung sehr stark waren und dann stagnieren und resignieren, weil keine Entwicklung mehr stattfand. Aber beide haben sich bisher kontinuierlich entwickelt. Ich würde mir wünschen, dass sie durchhalten und die Entwicklung so fortsetzen. Dann können sie auch bei den nächsten EMs, WMs und Olympischen Spielen dabei sein. Aber sie müssen halt die geforderte Leistung bringen, da führt kein Weg dran vorbei.

Sie sprechen immer wieder vom Thema Verletzungen. Ist das gerade für junge Leute ein Bruch und ein Aus, wenn da etwas Schwerwiegendes passiert?

Ja. Wir haben seit Jahren das Athleten-Monitoring, wo man die Trainingsbelastung und -intensität steuern kann. Das ist auf Wunsch der Athleten, Trainer und Mediziner verstärkt im Blick. Zum Saisonhöhepunkt kamen immer viele Verletzungen und da haben wir Dinge gefunden, die wir besser machen wollen, etwa dass man die Formsteuerung besser hinbekommt. Manchmal ist vom Umfang und von der Intensität her weniger mehr. Das muss man auch mental mit einpreisen. Viele denken immer, jetzt haben sie eine tolle Form, aber wenn man dann überzieht und die Muskulatur übermüdet und dann nicht mehr mitspielt, ist es kontraproduktiv. Da gab es in der Vergangenheit schon den ein oder anderen Fall.

Es gab letztens ein großes Interview mit Leo Neugebauer, der in den USA trainiert und dort sagte, ohne das Training in den Staaten sei es nicht möglich, auf dem Niveau zu sein. Was machen die auf der anderen Seite des Teiches anders und was müssen wir vielleicht ändern?

Auf der anderen Seite des Teiches wird Leistung deutlich mehr wertgeschätzt. Die Rahmenbedingungen sind einfach bei den Colleges und Universitäten anders. Die sind durch Stiftungen gefördert, setzen sehr viel Geld ein, suchen sich die besten Athleten aus der ganzen Welt und bieten ihnen die optimalen Rahmenbedingungen, um Sport zu treiben und gleichzeitig die Ausbildung fertigzustellen. Wenn Leo noch zwei Jahre durchhält, hat er einen Hochschulabschluss und ist ein Top-Athlet. Das passt aber auch nicht für jeden. Aber wir haben die Fördermöglichkeiten bei uns auch. Wir haben mit der Bundeswehr oder mit der Polizei Kooperationen, bei denen die Athleten eine Anstellung haben und damit eine soziale Absicherung, womit sie unbeschwert trainieren können. Aber es gibt viele Wege, nicht nur einen Königsweg. Leo ist der erste, der richtig in diesem Collegesystem drin ist.

Wäre das System mit den Stipendien auch etwas, was man in Deutschland mehr fördern könnte, nach diesem amerikanischen Modell?

Das ist sicher möglich, das gibt es teils auch. In der Sportregion Stuttgart gibt es ja Stipendien. Ich habe aber noch nicht so das Gefühl, dass in Deutschland alle sagen, wir wollen diesen Erfolg haben und wir tun alles dafür, das zu unterstützen. Aber es hat sich ja mittlerweile auch das Programm „Athleten Deutschland“ gegründet, mit dem Ziel der besseren Wertschätzung und Förderung.

Was müsste man tun, um diesen Erfolgswillen zu verstärken?

Man muss nicht immer nur auf die Medaillen schielen. Und man muss der Bevölkerung sagen: Das ist uns wichtig, hier wollen wir mehr investieren und sind auch bereit, wieder Großveranstaltungen zu übernehmen. In Frankreich hat sich in den letzten zwei Jahren viel getan, sie haben tolle Sportanlagen geschaffen und damit gute Rahmenbedingungen für Athletinnen und Athleten geliefert. Das letztes Mal hatten wir das 1972 in München. Gott sei dank hat die Bundesregierung endlich entschieden, dass wir uns für eine Veranstaltung bewerben können. Ohne politische Unterstützung macht das ja gar keinen Sinn. Das Ziel ist jetzt für 2040 mit entsprechenden Mitteln sich zu bewerben.

 
 
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