Korntal-Münchingen Missbrauchsopfer wollen mehr Achtung

Von Franziska Kleiner
Auf dem Podium haben Betroffene und Vertreter der Brüdergemeinde diskutiert – ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Foto: Simon Granville

Skulpturen sollen von Samstag an das Leid erinnern, das Kindern und Jugendlichen in der Brüdergemeinde Korntal angetan wurde. Für die ehemaligen Heimkinder, die vor allem in den 1950er bis 1970er Jahre sexualisierte und psychische Gewalt erfuhren, kommt dies viel zu früh.

Vergewaltigung, Schläge, Essensentzug, psychische und religiöse Gewalt – ehemalige Heimkinder sind als Schutzbefohlene in den Einrichtungen der evangelischen Brüdergemeinde Korntal bis in die 1980er Jahre Opfer geworden. Am Wochenende sollen bei den noch bestehenden beiden Kinderheime Stelen aufgestellt werden, um daran zu erinnern. Etliche ehemalige Heimkinder kritisieren die Vorgehensweise aber deutlich.

Wie gehen die Positionen auseinander? „Meiner Meinung nach geht es jetzt alles viel zu schnell“, sagt Martina Poferl, die 20 Jahre im Kinderheim Hoffmannhaus untergebracht war. Noch sei nicht alles aufgearbeitet. „Mir kommt es wie eine Abschiedsveranstaltung vor“, sagt auch Detlev Zander bei der Pressekonferenz, zu der Brüdergemeinde und Betroffene am Mittwoch eingeladen hatten. Die Kunst als Teil der Erinnerungskultur müsse nicht am Ort der Taten aufgestellt werden, sie gehöre in den öffentlichen Raum und hätte zum Beispiel mit Studenten – den künftigen Erziehern – erarbeitet werden sollen, so Zander. Dann wäre das Projekt auch ein Mahnmal geworden, keine Erinnerungskunst. Die Opfer müssten sich schließlich nicht erinnern. „Ich kann in den Spiegel schauen, dann habe ich Erinnerungskultur genug.“ Martina Poferl hält diese Form der Erinnerungskultur zudem für „sehr schwierig, weil wir uns wieder überrumpelt fühlen“: Die Brüdergemeinde hätte den Künstler Gerhard Roese vorgeschlagen, habe ihn beauftragt und sein Werk präsentiert. Corona habe weitgehend zu einer zweijährigen Zwangspause in den Gesprächen geführt, führt die Gemeinde an, doch so viele wie möglich sollten dies noch miterleben können. Die Zeit dränge aus einem anderen Grund, vermutet hingegen Zander: 2023 feiert das Hoffmannhaus 200-jähriges Bestehen.

Was war geschehen? Im Jahr 2014 wurde der Missbrauch in den Einrichtungen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal publik, nachdem das Heimopfer Detlev Zander sein Schweigen gebrochen hatte. Vor allem in den beiden Korntaler Kinderheimen wurden Kinder und Jugendliche in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren Opfer von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt. Die Täter waren zumeist Betreuer und andere Mitarbeiter der Gemeinde. Nach mehreren Anläufen wurde das unter externer Federführung aufgearbeitet. Dokumentiert sind hunderte Fälle von 81 Tätern. Die Aufarbeitung war von Beginn an geprägt von unterschiedlichen Positionen der Betroffenen und Brüdergemeinde zur Vorgehensweise bei der Aufarbeitung.

Wie geht es weiter in der Aufarbeitung? Eine Forderung haben die Betroffenen am vergangenen Mittwoch deutlich formuliert: Die Brüdergemeinde muss sich in Fragen der Entschädigungsleistungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) anschließen. Die EKD zahlt Opfern bis zu 50 000 Euro. Die Brüdergemeinde hat bisher bis zu 20 000 Euro gezahlt, insgesamt einen „hohen sechsstelligen Betrag“, sagt Geschäftsführer Veit-Michael Glatzle. Statt mehr zu zahlen, wolle man auf die Bedarfe der Betroffenen eingehen, etwa Therapiekosten übernehmen. Detlev Zander geht das nicht weit genug. Er hält dagegen, die EKD übernehme diese Kosten zusätzlich zur Entschädigung. „Die Anerkennung des Leids darf nicht neues Leid verursachen“, fordert er. Zander gehört auf EKD-Ebene dem neuen „Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt“ an. Dass die Brüdergemeinde nicht der EKD angehöre, lässt er als Argument nicht gelten: Denn die Diakonie der Gemeinde, welche die Heime verantwortet, gehöre der Diakonie Deutschland an. In einer anderen Forderung erhielten die Betroffenen Unterstützung von Aufklärer Benno Hafeneger. Zander und Bandle machen sich dafür stark, den acht Jahre währenden Aufarbeitungsprozess zu untersuchen, um die gemachten Fehler zu dokumentieren. Das wäre republikweit ein Novum, sagt der Wissenschaftler. Ein Novum mit Signalwirkung. Doch es genüge nicht, Gespräche mit Betroffenen zu führen, Dokumente auszuwerten und darüber einen Bericht zu verfassen. Die Aufarbeitung bleibe „ein Dauerthema“, so Hafeneger. Alles andere wäre „trügerisch und holt alle Seiten wieder ein.“ Der ehemalige weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde, Klaus Andersen, spricht bei allen Fehlern auch von „gemeinsamen Schritten“, die man gegangen sei. Er will ein Forum für die weitere Fragen rund um die Aufarbeitung schaffen. Wie das aussehen kann, lässt er offen – die Betroffenen sollen mitgestalten.

Was ist am Wochenende geplant? Am Samstag, 25. Juni, findet in Korntal von 11 bis 17 Uhr eine öffentliche Gedenkveranstaltung statt. Um 11 Uhr wird eine Skulptur auf dem Hoffmannhausgelände Korntal, Zuffenhauser Straße 24, übergeben. Vertreter von Evangelischer Brüdergemeinde und Diakonie wollen ein Schuldbekenntnis verlesen. Um 11.45 Uhr folgt ein Schweigemarsch über das Flattichhaus – dem Standort einer weiteren Skulptur – bis zur Stadthalle Korntal. Dort ist dann ab 12.30 Uhr eine Ausstellung von Kunstwerken Betroffener zu sehen, in denen sie ihre Erfahrungen verarbeitet haben. Um 14 Uhr beginnt eine Podiumsdiskussion. Moderiert wird die Diskussion mit Betroffenen, Fachleuten, Aufklärern und Vertretern der Brüdergemeinde von Matthias Katsch. Er ist Sprecher der Initiative Eckiger Tisch und macht sich für die Aufarbeitung und Sichtbarkeit von Betroffenen sexueller Gewalt in der katholischen Kirche stark.

 
 
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