Kürzlich hat das Landgericht Stuttgart Naim A., den Mörder von Tabitha, auch wegen Vergewaltigung einer 15-Jährigen verurteilt. Die Frau hatte sich an die Polizei gewandt. Diese habe ihr jedoch von einer Anzeige abgeraten, hatte sie vor Gericht ausgesagt. Die BZ hat bei der Polizei im Bereich Sexualdelikte, beim Referat Prävention und der Staatsanwaltschaft (siehe Infobox) nachgefragt, wie sie bei Vergewaltigung und sexueller Belästigung vorgehen.
Kreis Ludwigsburg Sexualdelikte: Wie die Polizei ermittelt
Warum es wichtig ist, frühzeitig Anzeige zu erstatten, weshalb die Beamten ermitteln müssen, wenn sie von einer möglichen Straftat erfahren und welche Präventionsangebote es gibt.
Wie ist die Polizei mit den Anzeigen in Markgröningen umgegangen?
Pressesprecherin Yvonne Schächtele: 2020 und 2021 haben zwei Mädchen Naim A. wegen sexueller Belästigung angezeigt. Im Oktober 2020 war das eine größere Geschichte zwischen einem jungen Mädchen und Naim A. Jeder hat jeden wegen unterschiedlicher Dinge angezeigt. Da war auch eine Anzeige wegen sexueller Belästigung dabei. Im Juni 2021 kam eine weitere junge Frau auf den Posten und hat ihn auch wegen sexueller Belästigung angezeigt. Dazu haben wir ermittelt. Deshalb können wir diesen Hinweis nicht ganz nachvollziehen.
Kriminalhauptkommissar (KHK) Andreas Mark: Nach diesem Vorwurf, der Polizeiposten hätte sich nicht gekümmert, ist die Revierführung an den Posten herangetreten. Bei der Aufarbeitung kam heraus, dass dort etliche Anzeigen aufgenommen worden waren. Dabei ging es nicht nur um Sexualdelikte. Es ging auch um Sachbeschädigung. Es ging um viele Anzeigen, man hat sich da gegenseitig angezeigt. Diese sind alle verarbeitet worden – entweder vom Posten selbst oder zuständigkeitshalber von anderen Dienststellen. Warum eine Anzeige nicht aufgenommen worden sein soll, erschließt sich uns nicht.
Was passiert, bei einer Anzeige wegen sexueller Belästigung?
Mark: Beim Bekanntwerden einer strafbaren Handlung bekommen die Beteiligten immer die Möglichkeit einer Stellungnahme – der Geschädigte, der Zeuge und der Beschuldigte. Das passiert in jedem Verfahren, außer jemand ist nicht erreichbar oder kommt nicht zu seiner Vernehmung.
KHK Kerstin Golderer: Der Sexualbereich ist vor diesem Hintergrund ein bisschen speziell, weil das oft im Privaten stattfindet. Und wenn wir nicht sofort gerufen werden, dann ist es mit der Spurensicherung schwierig. Die Angaben sind oft genau widersprüchlich. Immer hören wir beide Seite und sichern das, was noch da ist. Die Staatsanwaltschaft steht vor dem gleichen Problem. Das ist aber die Krux an diesem Deliktbereich, dass es erfolgreicher sein kann, wenn man sofort zur Polizei geht. Oft fühlen sich Opfer von Sexualstraftaten aber nicht in der Lage, sofort zur Polizei zu gehen. Wenn es im Nachhinein zu einer Einstellung kommt, dann nicht, weil man jemandem nicht glaubt. Aber wenn es nicht beweisbar ist, bleibt der Staatsanwaltschaft oft nichts anderes übrig, als das Verfahren einzustellen.
Was zählt zu den Sexualdelikten?
Mark: Der Bereich Sexualdelikte ist weit gefächert. Wir bewegen uns hier in der leichten, mittleren und schweren Kriminalität. Es geht los mit der sexuellen Belästigung. Eine sexuelle Belästigung ist jede sexuell motivierte Berührung. Wir haben Anzeigen von Menschen, die zum Beispiel im Bus angefasst werden. Das nehmen wir ernst. Dann gibt es die schwereren Sachen, wie sexuelle Übergriffe in Beziehungen, auch in kurzfristigen Beziehungen, in Ehen, im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Dann gibt es die Kindesmissbräuche, die erheblich sind. Und dann haben wir natürlich noch ein großes Segment, was die Kinderpornografie angeht, das ganz andere Ermittlungsschritte erfordert.
Ist die Hemmschwelle, Sexualdelikte anzuzeigen geringer als früher?
Golderer: Ja, das hat sich geändert. Die Leute kommen rascher, etwa um Berührungen anzuzeigen. Und das ist aus polizeilicher Sicht sehr gut, weil dann die Ermittlungschancen natürlich sehr viel größer sind. Es gibt aber auch weiterhin die Fälle, bei denen Vergewaltigungen angezeigt werden, die einige Jahre zurückliegen. Ich kann verstehen, dass Opfer zu einem früheren Zeitpunkt nicht dazu in der Lage sind. Doch wenn eine Verurteilung aus Mangel an Beweisen dann nicht mehr möglich ist, ist die Enttäuschung groß. Man kann zwar präventiv darauf hinweisen, aber wenn der Fall eintritt, reagiert jeder anders.
Erste Kriminalhauptkommissarin Andrea Glück: Unsere Präventionsveranstaltungen verbinden wir immer mit einem Appell, Anzeige zu erstatten. Vor allem bei jüngeren Menschen geben wir immer den Tipp, vielleicht erst einmal zu einer Beratungsstelle wie Silberdistel oder dem Verein Frauen für Frauen zu gehen und sich beraten zu lassen. Dort bekommt man erklärt, was auf einen zu kommt, wenn man Anzeige erstattet. Aber das Opfer sollte die Entscheidung zur Anzeige unbedingt mittragen.
Erhöht es die Hemmschwelle, wenn der Täter aus der Familie kommt?
Schächtele: Ja, denn als Opfer kann man dann das Gefühl haben, dass man die Person ist, die die Familie spaltet. Es wird immer Menschen geben, die sich auf die eine oder andere Seite schlagen, warum auch immer. Und das ist eine weitere Belastung, die dann hinzukommt.
Glück: Wir bewegen uns hier natürlich auch in einem großen Dunkelfeld. Wenn es um Kinder und Jugendliche geht, gehen Studien bei sexuellem Missbrauch von einem riesigen Dunkelfeld aus. Aber auch bei Erwachsenen geht man davon aus, dass das Dunkelfeld größer wird, je enger die Beziehung zum Täter war. Also den Bekannten, den man in der Disco kennenlernt, zeigt man eher an als den Vater oder Ehepartner, weil es keinen gemeinsamen Freundeskreis gibt oder der nicht zur Familie gehört. Obwohl auch das als Beziehungstat bezeichnet wird.
Was passiert, wenn jemand Anzeige erstattet?
Mark: Ein Beispiel: eine junge Frau lernt jemanden übers Internet kennen, sie verabreden sich auf einem Parkplatz. Er berührt sie an intimen, unbekleideten Körperstellen, was sie nicht will und auch äußert. Wenn er sie trotzdem anfasst, würde das den Tatbestand der sexuellen Nötigung erfüllen. Sie verlässt das Auto, fühlt sich beschmutzt und alarmiert sofort die Polizei. Der junge Mann ist inzwischen schon weggefahren. Dann fahren die Kollegen vom Bereitschaftsdienst der Kriminalpolizei zu dem Parkplatz. In der Regel ist auch immer eine Beamtin dabei. Um die Spuren zu sichern, die auch Berührungen hinterlassen, fahren wir mit der Frau zur gynäkologischen Untersuchung. Dort werden mögliche DNA-Spuren, zum Beispiel Sekretspuren, erhoben, diese müssen sich nicht immer am Geschlechtsteil befinden, und es werden Verletzungen dokumentiert. Das ist enorm wichtig, denn nur so bekommt man eine DNA-Spur des Tatverdächtigen. Die Untersuchung kann schon rund zweieinhalb Stunden dauern.
Anschließend wird das Opfer vernommen. Im Idealfall haben wir dann sogar schon den Namen und die Adresse des Tatverdächtigen. Dann verständigen wir uns mit der Staatsanwaltschaft, die dann entscheidet, ob Sofortmaßnahmen eingeleitet werden. Die Staatsanwaltschaft entscheidet auch darüber, ob zum Beispiel eine Untersuchungshaft angeordnet wird. Wenn jemand schon mehrfach wegen Sexualdelikten aufgefallen ist, wird die Staatsanwaltschaft anders entscheiden als wenn das nicht der Fall ist.
Kann man als Opfer das Verfahren stoppen?
Glück: Nein, wir unterliegen der Strafverfolgungspflicht. Das heißt, wenn man bei der Polizei etwas sagt, was bei uns den Verdacht einer Straftat auslöst, müssen wir ein Ermittlungsverfahren einleiten. Wenn man sich noch nicht sicher ist, ob man Anzeige erstatten möchte, gibt es die Möglichkeit, sich bis zu drei Tage nach dem Geschehen an das RKH Klinikum oder an die Gewaltambulanz in Stuttgart zu wenden und dort die Spuren zunächst sichern zu lassen, ohne dass die Polizei ins Spiel kommt. Die Spuren werden dann dort aufbewahrt, und wenn man sich später zur Anzeige entschließt, können sie im Verfahren verwertet werden.
Wie sieht Ihre Präventionsarbeit aus?
Glück: Wir halten zum Beispiel Vorträge an Schulen und haben festgestellt, dass es gut ist, dass Jungen und Mädchen daran teilnehmen. Neben einigen obercoolen Jungs, die auch schon mal übergriffig werden, gibt es viele Jungen, die das gar nicht gut finden und die in ihrer Rolle als Helfer angesprochen und gestärkt werden. Die dann auch sagen, ‚hey, so, verhalten wir uns nicht’.
Das sagt die Staatsanwaltschaft Stuttgart
Laut Staatsanwaltschaft wurde gegen den Verurteilten auch ein Ermittlungsverfahren geführt, das Tathandlungen aus dem Jahr 2021 zum Gegenstand hatte. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung in sieben Fällen und in einem Fall tateinheitlich mit versuchter Nötigung erhoben. Zu einer Verurteilung kam es in dieser Sache jedoch nicht, da das Verfahren im Hinblick auf die Verurteilung wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe eingestellt wurde. Das Gericht kann von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn die zu erwartende Strafe vor dem Hintergrund einer anderen Strafe, die wegen einer anderen Tat verhängt worden ist, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt. Ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung, das eine Tathandlung vor dem Jahr 2021 zum Gegenstand hatte, wurde eingestellt, da ein Tatnachweis nicht zu erbringen war. Die vermeintliche Geschädigte wollte laut Staatsanwaltschaft im Nachgang keine Angaben machen und auch nicht die Namen möglicher Zeugen nennen.
Vergewaltigungen und sexuelle Belästigungen
Im Kreis wurden 2020 31 Vergewaltigungen angezeigt, darunter weibliche Opfer (w): 29, männliche Opfer (m): 2, 2021: 34 (w: 34, m: 1), 2022: 29 (w: 29), 2023: es 34 (w: 33, m: 1), 2024: 53 (w: 49, m: 5). Wenn die Zahl der Fälle nicht mit der der Opfer übereinstimmt, gibt es zu einem Fall mehrere Opfer. 2020 wurden 49 Fälle von sexueller Belästigung angezeigt (w: 47, m: 6). 2021: 53 (w: 52, m: 4). 2022: 37 (w: 34, m: 5). 2023: 53 (w: 53: m: 2). 2024: 82 (w: 83, m: 7).