Am Ende war von Joseph Süßkind Oppenheimer nicht mehr viel übrig: Sechs Jahre war sein Leichnam in einem rot gestrichenen Eisenkäfig auf dem Stuttgarter Galgenberg ausgestellt worden. Am 19. März 1744 wird der Käfig auf Geheiß von Herzog Carl Eugen vom Galgen abgenommen, die Überreste des Gehenkten werden auf der Wolframshalde verscharrt. Es ist der Schlusspunkt einer spektakulären Staatsaffäre, die bis heute nachwirkt. Die Frankfurter Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann hat den Fall Oppenheimer akribisch untersucht und ein Buch darüber veröffentlicht: „Joseph Süß Oppenheimer. Ein Justizmord“, das im Steidl-Verlag erschienen ist und 24 Euro kostet.
Kreis Ludwigsburg Tod eines Aufsteigers
Acht Monate saß Joseph Süß Oppenheimer auf dem Hohenasperg ein, bevor er in Stuttgart hingerichtet wurde. Es der bekannteste Justizmord in der Geschichte des Landes.
Siebeneinhalb Meter Akten
Siebeneinhalb Meter Akten hat sie dafür im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv gesichtet, sich durch die nicht besonders systematisch archivierten Papierberge „durchgefressen“, wie sie sagt. Häufig war sie die Erste, die die Unterlagen seit dem Prozess wieder las. „Die Akten sind gleich nach Prozessende unter Verschluss genommen worden“, sagt Raquel Erdtmann. Erst 1918 wurden sie wieder zugänglich gemacht, aber nur wenige tauchten so tief in das Aktenkonvolut ein wie Raquel Erdtmann. Sieben Jahre hat sie mit Oppenheimer und seinem Fall verbracht.
Der ist außergewöhnlich – in jeder Hinsicht. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich um die Regeln und Gepflogenheiten seiner Zeit wenig schert, der unbedingt nach oben will. Der den Aufstieg in höchste Kreise schafft und als Sündenbock für die Verfehlungen seines Dienstherren mit dem Leben bezahlt. Denn Oppenheimer ist Jude, das macht ihn für seine Gegner zum perfekten Sündenbock – und seine Geschichte zur perfekten Folie für antisemitische Hetze in den folgenden 200 Jahren. Besonders berüchtigt: der Nazi-Propaganda-Film „Jud Süß“ von 1940.
Ein barocker Aufsteiger
Oppenheimers Geschichte beginnt 1698 in Heidelberg: Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheimer wird in eine angesehene jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Seit der Antike gibt es jüdisches Leben nördlich der Alpen. Doch die Situation der Juden im damaligen Heiligen Römischen Reich ist auch nach so langer Zeit prekär und unterliegt strengen, diskriminierenden Regeln. Doch Oppenheimer pfeift darauf. Nach einigen Auslandsreisen steigt er ins Handels- und Finanzbusiness ein. Er handelt mit Luxusgütern, wird Kreditgeber für Adlige und Steuerpächter des pfälzischen Kurfürsten. Letzteres bringt wenig Gewinn, aber viel Renommee. Oppenheimer unterhält ein großes Haus, zeigt sich spendabel gegenüber Glaubensgenossen und Christen, kann aber auch arrogant auftreten – „ein barocker Typ“, wie Raquel Erdtmann sagt. „Und seiner Zeit 200 Jahre voraus.“ Zu seinen Kunden gehören der mächtige Erzbischof und Kurfürst zu Köln und die Familie von Thurn und Taxis, der die Reichspost untersteht.
Prächtige Aussichten für einen ehrgeizigen Aufsteiger wie Oppenheimer und es wird noch besser: Bei einer Kur in Wildbad 1732 lernt er Carl Alexander kennen. Er gehört zu einer Nebenlinie des Hauses Württemberg, ist am kaiserlichen Hof in Wien aufgewachsen und hat sich im Spanischen Erbfolgekrieg und den Türkenkriegen bewährt. Seit 1719 ist er kaiserlicher Statthalter in Serbien.
Der Herzog ist pleite
Wie viele Adlige sind Carl Alexander und seine Frau Maria Augusta von Thurn und Taxis ständig in Geldnöten. Die Hofhaltung ist aufwendig, Serbien wirtschaftlich rückständig. Da kommt der ehrgeizige Oppenheimer mit seinem Händchen fürs Geschäft gerade recht, Carl Alexander setzt ihn als Hof- und Kriegsfaktor ein. Mehr noch: Das Paar überträgt ihm auch seine privaten Geldgeschäfte. Auch der Landgraf von Hessen-Darmstadt stellt Oppenheimer ein, der auf dem Weg nach ganz oben ist. Da stirbt am 31. Oktober 1733 der württembergische Herzog Eberhard Ludwig – ohne Erben. Die Herzogswürde geht auf seinen Cousin Carl Alexander über. Dem misstrauen die künftigen Untertanen schon vor Amtsantritt. Seit dem Tübinger Vertrag von 1514 hat in Württemberg die sogenannte Ehrbarkeit das Sagen. Sie besteht aus städtischen Oberschichten, Adligen und protestantischen Geistlichen. Der jeweilige Herzog ist auf ihre Kooperation angewiesen.
Carl Alexander gilt jedoch als Haudrauf, als Mann des Kaisers. Dass er 1711 zum Katholizismus konvertiert ist, weckt im tiefprotestantischen Schwaben zusätzlich Argwohn. Carl Alexander wiederum will in absolutistischer Manier herrschen und das Land per Dekret wirtschaftlich und finanziell auf Vordermann bringen. Umsetzen soll das Joseph Süß Oppenheimer. Was er vorfindet, ist ein wirtschaftlich rückständiges Land. „Bei Amtsantritt konnte ihm niemand sagen, wie es um Ausgaben und Einnahmen steht“, sagt Raquel Erdtmann.
Judenfreies Württemberg
Oppenheimer macht sich trotzdem ans Werk und trifft von vornherein auf heftige Widerstände bei den Projekten, für die er sich von Herzog Carl Alexander stets eine schriftliche Arbeitsanweisung geben lässt. Das soll ihn rechtlich absichern. Ein kluger Zug, denn als Jude ist ihm seine gefährliche Lage im Ländle von vornherein bewusst. Er geht das Wagnis dennoch ein, legt sich mit den ineffektiven Beamten an, versucht Monopole zum Schutz der inländischen Wirtschaft aufzubauen, streicht Posten, reformiert die Waisenpflege, bislang eine einträglich Einnahmequelle der Kirche, erfindet eine Lotterie, um die Staatseinnahmen zu steigern, eine Art Landesbank, und kümmert sich ums Münzwesen. Erfolgreich: Die herzoglichen Einnahmen verdreifachen sich in kurzer Zeit.
Nach anderthalb Jahren ist Oppenheimer jedoch ausgebrannt, bittet den Herzog um Entlassung. Der will seinen besten Mann nicht gehen lassen, droht ihm mit Verfolgung. Das geht so hin und her, bis Carl Alexander am 12. März 1737 unerwartet stirbt. Oppenheimer wird noch am selben Tag festgenommen, sein Besitz an seinem Firmensitz in Frankfurt beschlagnahmt. „Angesichts der damaligen Kommunikationsmöglichkeiten erstaunlich“, sagt Raquel Erdtmann.
Noch in der Haft – Oppenheimer wird erst in Hohenneuffen, dann acht Monate auf dem Hohenasperg arrestiert – wird sein gesamter Besitz verkauft. „Das Todesurteil stand von vornherein fest“, so Erdtmann. Weil die Ehrbarkeit nicht gegen den ungeliebten Herzog vorgehen kann, rächt sie sich an seinem Diener.
Oppenheimer wird unter anderem wegen Bestechlichkeit, Amtshandel und Hochverrat angeklagt. Doch die Beweislage ist dünn. Die Anklage wegen Unzucht mit Christinnen wird stillschweigend beerdigt, weil auch Damen der Ehrbarkeit unter Oppenheimers Eroberungen sind. Dafür verschweigt man ihm, dass seine Geliebte Luciana Fischer im Zuchthaus einen Sohn zur Welt bringt – und auch dessen späteren Tod.
Urteil ohne Begründung
Oppenheimers Rückversicherung, die herzoglichen Anweisungen, werden ignoriert. Ebenso dass für den Juden Oppenheimer eigentlich das Reichskammergericht in Wetzlar zuständig ist. „Entsprechende Schreiben Oppenheimers wurden abgefangen“, sagt Raquel Erdtmann. Auch die Verteidigungsschrift seines Anwalts wird aus den Akten entfernt, sie taucht erst später wieder auf.
Das Urteil, das der amtierende Herzog Carl Rudolf im Januar 1738 unterschreibt, verzichtet schließlich auf eine Begründung: Während christliche Mitangeklagte nur nach Esslingen verbannt werden, wird Oppenheimer zum Tod durch den Strang verurteilt.
Sie wird am 4. Februar 1738 auf dem Stuttgarter Galgenberg vollstreckt. Der Herzog lässt dafür einen zwölf Meter hohen eisernen Galgen errichten, den höchsten im damaligen Reich. Der massiv militärisch begleiteten Hinrichtung wohnen angeblich 12.000 Menschen bei..
Oppenheimers Leiche wird anschließend in einem extra angefertigten Käfig ausgestellt, der Fall über Jahrhunderte für antisemitische Propaganda ausgeschlachtet. Der Mensch Joseph Süß Oppenheimer verschwindet dahinter. „Den wollte ich mit meinem Buch wieder sichtbar machen“, sagt Raquel Erdtmann. Er hätte es verdient.