Landkreis Ludwigsburg Sexuelle Gewalt: Bedenkzeit für Betroffene

Von Von Claudia Mocek
Die medizinische Versorgung von Betroffenen steht an erster Stelle. Foto: dpa/PA Gareth Fuller

Gute medizinische Versorgung, geschulte Ansprechpartner und die Möglichkeit, Spuren längerfristig zu sichern: Acht Betroffene haben das Hilfsangebot Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung des Kreises bisher genutzt.

Acht Frauen zwischen 18 und 60 Jahren haben die Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung bisher in Anspruch genommen“, sagt Cynthia Schönau. Die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises hat das Projekt im November 2021 im Kreis Ludwigsburg initiiert. Es ruht auf drei Säulen: Der medizinischen Versorgung des Opfers, einer möglichen vertraulichen Beweissicherung und einem Beratungsangebot durch die Vereine Silberdistel oder Frauen für Frauen.

„Alle Frauen, die zu uns kamen, haben die vertrauliche Spurensicherung in Anspruch genommen“, sagt Schönau. Keine hat den Täter angezeigt – bisher. Doch noch haben einige von ihnen die Möglichkeit, sich für eine Anzeige zu entscheiden. Denn die vertrauliche Beweissicherung verschafft den Betroffenen ein Jahr lang Zeit, sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden. So lange werden die Untersuchungsproben auf Wunsch aufgehoben. Die Frauen befinden sich nach der Vergewaltigung oft in einer Ausnahmesituation, erklärt die Leiterin der Gesundheitsförderung beim Landratsamt, Uschi Traub. Erschwerend komme hinzu, dass der Täter oft aus dem Familien- oder Bekanntenkreis stammt. Aus Angst vor Konsequenzen verzichteten viele daher auf eine sofortige Anzeige. Die „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ verschaffe den Betroffenen eine Atempause, um über eine Anzeige nachzudenken und sich über die Folgen zu informieren. „Die Frauen sind darüber erleichtert“, sagt Schönau.

Wer kann das Angebot des Kreises in Anspruch nehmen?

Wer sofort eine Anzeige erstatten möchte, wendet sich direkt an die Polizei. Frauen und Männer, Mädchen und Jungen ab 14 Jahren, die Opfer einer Vergewaltigung geworden sind und noch nicht wissen, ob sie den Täter anzeigen wollen, können die medizinische Versorgung des Kreises in Anspruch nehmen. Sie sollten zeitnah – bis zu drei Tage nach der Tat – die Notaufnahme der Kliniken in Ludwigsburg aufsuchen. Dies gilt für Frauen und Männer ab 18 Jahre.

Mädchen unter 16 Jahren und Jungen unter 18 Jahren wenden sich zunächst an die Kindernotaufnahme in Ludwigsburg. Die medizinische Untersuchung übernimmt bei den Mädchen eine Kinderärztin beziehungsweise ein Urologe. Für Mädchen und Jungen, die jünger als 14 Jahre sind, ist die Kinderklinik zuständig. Sie können nicht innerhalb des Versorgungsangebots des Kreises behandelt werden.

Was erwartet Betroffene in der Notaufnahme in Ludwigsburg?

Dort treffen sie vom Empfang bis zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten auf geschulte Ansprechpartnerinnen und -partner. Wer zum Beispiel sagt, dringend mit einer Frauenärztin sprechen zu wollen, werde direkt ins Frauen- und Kinderzentrum begleitet. Männer warten zunächst in der Notaufnahme auf die Untersuchung durch einen Urologe oder einen Allgemeinen Chirurgen.

Muss man alleine in die Klinik kommen?

„Nein, eine Person kann die Betroffene oder den Betroffenen begleiten“, sagt Uschi Traub. Darüber hinaus sei es aber auch möglich, vor Ort einen Seelsorger zu kontaktieren.

Entstehen den Betroffenen Kosten für die Untersuchung?

Nein, den Betroffenen entstehen keine Kosten. Allerdings wird die Krankenkassenkarte in der Klinik eingelesen. Die Untersuchung sei vertraulich, aber nicht anonym, sagt Uschi Traub. Das sei auch nötig, um die Untersuchungsergebnisse den Betroffenen zuordnen zu können.

Kann man zwischen einer Ärztin und einem Arzt wählen?

Wenn möglich, übernimmt bei Frauen die medizinische Untersuchung eine Ärztin. Ist dies nicht der Fall, sei auf jeden Fall eine Hebamme oder eine andere Frau bei der Untersuchung anwesend. „Für uns ist das Wichtigste, dass die Opfer medizinisch gut versorgt werden und sich sicher fühlen“, sagt Traub.

Wie ist der Ablauf bei der Untersuchung?

Zunächst findet ein Gespräch darüber statt, was passiert ist – damit die Ärztin weiß, worauf sie bei der sich Untersuchung achten muss. Sollte es Sprachprobleme geben, wird der Dolmetscher-Dienst des bundesweiten Hilfetelefons hinzugeschaltet, der aus 17 Sprachen übersetzen kann.

Bei der medizinischen Basis-Untersuchung wird die Betroffene von Kopf bis Fuß untersucht – auf Wunden, blaue Flecken, aber auch auf innere Verletzungen. Hinzu kommen auch verschiedene Abstriche zur DNA-Bestimmung, Blut- und Urinproben werden genommen, um bereits bestehende Krankheiten auszuschließen.

In manchen Fällen werde ein Schwangerschaftstest gemacht. „Ist eine Frau bereits schwanger, kann so ausgeschlossen werden, dass das Kind bei der Vergewaltigung gezeugt wurde“, sagt Traub.

Bei Bedarf werde die „Pille danach“ verabreicht. „Die Betroffenen müssen nicht noch wegen verschiedener Rezepte an unterschiedlichen Stellen anfragen“, sagt Traub. Wenn zum Beispiel bekannt ist, dass der Täter HIV-positiv ist oder andere Geschlechtskrankheiten hat, werde mit einer entsprechenden Behandlung reagiert, um die Betroffenen bestmöglich zu schützen.

Was passiert mit den Untersuchungsergebnissen?

Stimmt die Betroffene zu, werden die Verletzungen nicht nur schriftlich dokumentiert, sondern auch mithilfe von Fotos. Aber: „Die Frauen müssen jeden einzelnen Schritt genehmigen“, betont Traub. „Die betroffene Frau ist jederzeit die Herrin des Verfahrens“, sagt Cynthia Schönau.

Wie funktioniert die vertrauliche Spurensicherung?

Auf Wunsch der Betroffenen werden die Spuren der Vergewaltigung gesichert und per Kurier in die Rechtsmedizin nach Heidelberg gebracht. Dort werden sie bei Erwachsenen ein Jahr aufbewahrt, bei Minderjährigen bis zur Vollendung des 19. Lebensjahrs. „So kann das Opfer noch zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden, ob es eine Anzeige erstatten möchte“, erklärt Schönau. Nach der Frist werden die Proben automatisch vernichtet.

Die Klinik ist mit Untersuchungskits und Befundbögen ausgestattet, damit an alles gedacht wird. Dort hinein kommen zum Beispiel Kleidungsstücke, Blut- und Urinproben.

Ein bis zwei Stunden dauert die Untersuchung, schätzt Schönau, „ein großes Engagement der RKH-Kliniken“. Die Beweissicherung sei bis zu drei Tage nach einer Vergewaltigung möglich.

Haben die gesicherten Spuren vor Gericht bestand?

Die vertrauliche Beweissicherung orientiert sich am gleichnamigen Modell der Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt. Von dieser wurden auch die Befundbögen übernommen, die immer wieder aktualisiert werden. Sie sind mit Staatsanwälten und Gerichten abgestimmt. „Sie sind so gut, dass sie als Indiz herangezogen werden können, wenn keine Spuren gesichert wurden“, sagt Schönau.

Müssen die Betroffenen in der Klinik bleiben?

In der Regel können sie die Klinik nach der Untersuchung verlassen, nur bei schweren Verletzungen sei eine stationäre Aufnahme nötig, erläutert Traub. Für weitere Behandlungen bekommen sie einen Brief ausgehändigt für den weiterbehandelnden Arzt.

Wie geht es für die Betroffenen danach weiter?

Was wären die rechtlichen Folgen einer Anzeige? Mit welchen psychischen Folgen muss ich rechnen? Wo bekomme ich Hilfe? Die Vereine Silberdistel (für Betroffene bis 20 Jahren) und Frauen für Frauen (für Betroffene ab 21 Jahren) beraten zu diesen Fragen. Opfer von Vergewaltigungen wird angeboten, dass sie von einem der Vereine telefonisch, mit unterdrückter Nummer, kontaktiert werden. „Wenn niemand abhebt, versuchen die Vereine es ein paar Mal innerhalb von 14 Tagen“, sagt Schönau: „Niemand muss befürchten, von uns quasi verfolgt zu werden.“ Betroffene können sich bei den Beratungsstellen aber auch von sich aus melden – niemand sei aber dazu verpflichtet.

Was passiert mit den Ergebnissen, die in der Klinik verbleiben?

„Die Befundbögen werden in der Klinik zehn Jahre lang aufbewahrt“, sagt Uschi Traub. Auch wer auf eine vertrauliche Beweissicherung verzichtet, habe in diesem Zeitraum die Möglichkeit, darauf zurück zu greifen. „Eine Vergewaltigung verjährt erst nach 20 Jahren“, sagt Cynthia Schönau. Daher schließe die „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ hier eine Lücke zwischen dem sofortigen Einleiten eines Ermittlungsverfahrens – auch gegen den Willen von Betroffenen – und dem Nichtanzeigen der Straftat.

Mehr Infos: www.soforthilfe-nach-vergewaltigung.de

Zahlen aus dem Landkreis Ludwigsburg

Im Jahr 2021
gab es laut Sicherheitsbericht des Polizeipräsidiums Ludwigsburg: 548 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. 90 Prozent der Opfer waren weiblich. 35 Fälle waren Vergewaltigungen/sexuelle Nötigung. In 34 Fällen waren Frauen betroffen, in einem Fall ein Mann. 14 Opfer waren Jugendliche, 21 Opfer waren Erwachsene. In nahezu allen Fällen bestand zwischen dem Opfer und dem Täter eine Vorbeziehung.

 
 
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