Lebenshilfe in Bietigheim-Bissingen Die erste Generation an Rentnern mit Behinderung

Von Heidi Vogelhuber
Verschiedene Unterhaltsprogramme werden den Senioren mit einer Behinderung im Rahmen der Tagesstruktur im Anbau der Lebenshilfe in Bietigheim geboten. Links im Bild: Ute Schürmeyer. Foto: /Martin Kalb

In der Tagesstruktur für Senioren in der in der Karl-Mai-Allee in Bietigheim-Bissingen wird die erste Generation an Rentnern mit Behinderung betreut. Ein Einblick in das Angebot der Lebenshilfe Ludwigsburg.

Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, tönt aus dem Aufenthaltsraum der Wohnstätten der Lebenshilfe Ludwigsburg in der Karl-Mai-Allee in Bietigheim-Bissingen. Die Stimmung ist gelöst, manche singen mit, manche hören zu, wieder andere haben es sich in einem der Ohrensessel gemütlich gemacht und beobachten das Geschehen auf der Straße. Das gemeinsame Singen ist einer der Programmpunkte, die den Menschen mit Behinderung im Rahmen der Tagesstruktur für Senioren und Seniorinnen geboten wird.

Neue Gruppe an Rentnern

Diese zwölf Menschen zwischen Ende 50 und 82 Jahren, die im Rahmen der Tagesstruktur betreut werden, gehören der ersten Generation von Menschen mit einer Behinderung, die das Rentenalter erreichen, an. „Menschen mit einer Behinderung wurden in der Vergangenheit nicht so alt“, erklärt Elke Gutstein, die Bereichsleiterin der Tagesstruktur für Senioren unter dem Dach der Lebenshilfe. Einerseits liege das an der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, andererseits fehlte die medizinische Versorgung. Viele Bewohner der Besonderen Wohnformen in der Karl-Mai-Allee haben ihr Leben lang in den Theo-Lorch-Werkstätten gearbeitet. Die Arbeit dort gab ihnen eine sinnstiftende Aufgabe, strukturierte ihren Tag. „Wir hatten einen Bewohner, der 76 Jahre alt war und noch immer arbeitete“, erzählt Gutstein. Einer habe irgendwann nicht mehr gekonnt, ein weiterer nicht mehr gewollt – die Menschen waren Senioren und ihnen stand zu, in den Ruhestand zu gehen. „2016 kam bei uns die Idee auf, dass man etwas braucht“, sagt Cora Wolpert, die Leiterin der Lebenshilfe-Einrichtung in Bietigheim. Aus ersten Planungen wurde ein Beschluss und letztendlich wurde 2019 mit dem Bau einer Gebäudeerweiterung begonnen, die Mitte 2021 fertiggestellt war. Die Bewohner der Lebenshilfe seien gerne in ihrer gewohnten Umgebung, jedoch sei wichtig, für die Seniorenbetreuung eigene Räume zu haben, zur Abgrenzung vom übrigen Alltag. „Und doch kann der Mittagsschlaf im eigenen Bett gemacht werden“, sagt Wolpert.

Ausprobieren, was funktioniert

Doch bis es zu diesen Strukturen mit einem großen Raum, der durch mobile Trennwände ganz nach den Bedürfnissen aufgeteilt werden kann, kam, dauerte es. Im September 2016 startete die Lebenshilfe mit zwei Senioren in einem freien Raum. Doch wie sollte man die Leute beschäftigen? „Für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist es schwierig, sich vorzustellen, was sie in der Rente erwartet“, erklärt Gutstein. Normalerweise hätten Menschen Wünsche, Träume und Hobbys, mit denen sie die Zeit im Ruhestand füllen möchten. „Wir mussten erst einmal erkunden, was unsere Senioren wollen“, sagt sie. Die Betreuer sind Heilerziehungspfleger, Sozialpädagogen, Erzieher. Wichtig sei, zu wissen, wie man mit Menschen mit einer Behinderung umgehe, erklärt Gutstein. Wenn die Pflege jedoch Überhand nehme, müsse man die Frage stellen, ob die Lebenshilfe noch die richtige Einrichtung sei oder ob ein Wechsel in ein Altenheim Sinn ergebe.

„Noch besser als Arbeiten“

Die erste, die an der Seniorenbetreuung in Bietigheim teilgenommen hat, ist Ute Schürmeyer. Der 70-Jährigen sieht und merkt man ihr Alter nicht an. „Ich habe hier auch meinen Erich gefunden“, erzählt sie glücklich von ihrem Freund. Seit Juli 1990 wohnt sie in der Bietigheimer Wohnstätte. Früher habe sie gedacht, sie wolle keine „olle Rentnerin“ werden. Mittlerweile ist sie aber überzeugt vom Rentnerdasein: „Es ist sogar noch besser als Arbeiten.“

Alle Rentner haben feste Aufgaben, die sie sich nicht nehmen lassen wollen, berichtet Gutstein. Einkaufen, den Tisch decken, kochen. Ute Schürmeyer gieße gerne die Pflanzen. Neben dem Musizieren steht auch Basteln und Handarbeit auf dem Programm. Es werde außerdem gerne gefeiert, ob Geburtstag, Ostern oder Fasching. Mitten im Gespräch steht die rüstige Rentnerin auf. „Ich mach’ jetzt Feierabend“, erklärt sie selbstsicher und geht. Die Tagesstruktur beginnt unter der Woche um 8.30 Uhr und endet um 15.30 Uhr. Das Angebot richtet sich nicht nur an Menschen, die in den Wohnstätten wohnen, auch kämen Senioren aus dem ambulanten Bereich sowie Menschen, die bei Angehörigen wohnen. Diese werden mit einem Bus gefahren. „Der Bedarf ist groß und wird steigen“, prophezeit Gutstein. Die Tagesstruktur der Karl-Mai-Straße ist mit den zwölf Senioren, die von sechs Mitarbeitern in Voll- und Teilzeit betreut werden, ausgelastet.

133 Rentner mit Behinderung

Wie Dr. Andreas Fritz, Pressesprecher des Landratsamts Ludwigsburg, mitteilt, bieten neben der Lebenshilfe in Bietigheim im Kreis auch die Lebenshilfe Vaihingen-Mühlacker, die Karlshöhe Ludwigsburg, Habila, die Diakonie Stetten sowie Atrio Leonberg ein Angebot für Senioren mit Behinderung an. „Insgesamt nahmen im Kreis 133 Personen zum Stichtag 31. Dezember 2020 an dem Angebot teil“, so Fritz. Die sogenannten Fördergruppen würden nicht ausschließlich, aber überwiegend von Senioren genutzt.

Was die Lebenshilfe künftig noch erreichen möchte, ist eine Öffnung zur Stadt hin, sagt Cora Wolpert. So könnten die Räume auch für Veranstaltungen mit den Aktiven Senioren oder anderen Vereinen genutzt werden. Diese Art der gelebten Inklusion sei durch die Coronapandemie noch etwas ausgebremst worden.

Info

Für die Finanzierung von Ausflügen und kleinen Wünschen wie einer Bratwurst auf dem Stadtfest oder einem Eis im Sommer wurde die Initiative „Lebensjahre“ gegründet, die den Senioren mit Behinderung, die oftmals einen schmalen Geldbeutel haben, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Infos unter www.lebenshilfe-ludwigsburg.de/lebensjahre.

 
 
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