Lesung am Gymnasium Die Suche nach dem verlorenen Bruder

Von Susanne Yvette Walter
Hans-Ulrich Treichel bei seiner Lesung in den Ellentalgymnasien. Foto: Martin Kalb

Hans-Ulrich Treichel hat an den Ellentalgymnasien eine Lesung zum Thema Bruderhass und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg abgehalten.

Es ist ein Glücksfall für die Schüler der Jahrgangsstufe 1 an den Ellentalgymnasien: Sie begegneten passend zur Lektüre im Deutschunterricht dem Berliner Autor Hans-Ulrich Treichel in der Aula ihrer Schule. Auf Einladung der Otto-Rombach-Bücherei Bietigheim-Bissingen und der Gymnasien las er ihnen am Freitag aus seinem autobiografisch motivierten Werk „Der Verlorene“ vor und stellte sich ihren Fragen.

In manchen Schülergesichtern ist am Freitagmorgen direkt zu lesen, wie tief sie gedanklich in die Geschichte eingetaucht sind, die der Berliner Autor Hans-Ulrich Treichel ihnen schmackhaft machen will. Es geht darum, wie eine Mutter auf der Flucht aus Angst in einer brenzligen Situation einer wildfremden Frau im Vorbeigehen einfach ihr Kind an die Hand gibt und es nicht wieder findet. Doch die Fragen der Schüler drehen sich nicht nur um das Buch allein.

Aus dem Bauch heraus

Hans-Ulrich Treichel kommt als Autor einer Abiturlektüre an die Bietigheimer Gymnasien. Wie er beim Schreiben so ans Werk geht, will Deutsch-Leistungskursler Jonas Mollenkopf wissen. „Man schreibt aus dem Bauch heraus und die Inhalte ergeben sich. Der Anteil an bewusster planvoller Konstruktion ist sehr gering“, gibt der Autor offen zu. „Seine Sprache ist nicht wirklich blumig, aber doch ganz besonders. Sie trifft immer genau den Nerv dessen, was er sagen will“, stellt Jonas Mollenkopf fest.

Zu sagen hat der Autor viel: Die Suche der Eltern nach dem „verloren“ gegangenen Bruder foltert den Ich-Erzähler insgeheim bis aufs Mark. Vieles dreht sich bei den Eltern nur um den großen Bruder Arnold, den er nie kennengelernt hat. Er erlebt seine ganze Kindheit über, wie Arnold verherrlicht und vermisst wird und gerät dabei ins Abseits. Dramen wie diese sind bei Kriegsende deshalb so hoffnungslos, weil es noch keine DNA-Untersuchungen gibt. Viel Zeitgeist spielt mit hinein in der Erzählung.

Inwiefern das Werk autobiografisch ist, will ein Schüler wissen. Der Erzähler spürt, dass der verlorene Bruder eine immer größere Rolle im Leben der Eltern spielt, zumal die Luxusumbauten am Wohnhaus in der Nachkriegszeit irgendwann einmal abgeschlossen sind und die Mutter genau dann einen Nervenzusammenbruch erleidet. Beim Nachhaken nennt der Autor Parallelen zu seiner eigenen Biografie. „Die Eltern erzählten meinen Brüdern und mir, dass es einen großen Bruder gegeben habe, der auf der Flucht verhungert sei. In Wirklichkeit, und das habe ich erst nach dem Tod meiner Eltern herausgefunden, ist er verloren gegangen und sie haben ihn jahrelang gesucht“, erzählt Treichel.

„Faszinierend wie der Autor die Wohnsituation seines Helden beschreibt“, bewundert Jonas Mollenkopf. „Und plötzlich hatten die Fenster keine Eisblumen mehr, weil sie aus Doppelglas bestanden, und es gab keine überraschenden Absätze, keine langen Korridore und auch keinen Dachboden mehr mit einer Falttür, die in den Boden eingelassen war“, liest Treichel und eröffnet den Schülern damit eine Welt, die viele, die in modernen Bauten aufwachsen bis dato vielleicht kaum gekannt haben. Es sind Schritte in seine eigene Kindheit. Die Zeitumstände der 1950er- und 1960er-Jahre werden lebendig. „Erst nach meinem Studium kam mir der Gedanke, eine autobiografische Geschichte zum Thema Bruderverlust zu verfassen.“

Körpermerkmale dokumentieren

Zum Einblick in den Zeitgeist von damals gehört auch ein Einblick in die damalige Forschung: Arnolds Familie lässt auf viele Arten Körpermerkmale in der Universitätsklinik in Heidelberg dokumentieren. Im Vorfeld erleben die Ellentalschüler einen ergreifenden Dialog zwischen Vater und Sohn. „Er redete zum ersten Mal wie ein guter Freund mit mir oder zumindest wie ein Geschäftspartner. Warum? Er hatte einen Wunsch“, stellt der Erzähler im Buch fest. Die Zuhörer erfahren, mit welchen Methoden damals ohne DNA-Analyse verwandtschaftliche Verhältnisse untersucht wurden.

Auch der Autor selbst ist auf Streifzug nach dem Bruder gegangen, als die Eltern tot waren und fand einen vermeintlichen Kandidaten. „Wir haben uns dann für eine DNA-Analyse entschieden“, erzählt Treichel. Das Ergebnis war enttäuschend negativ. „Damals sind Minimum 300 000 Kinder verloren gegangen“, sagt er, „und die Wahrscheinlichkeit, einen damals kleinen blonden Jungen wieder zu finden, war verhältnismäßig gering.“

Info Neben „Der Verlorene“ verfasste der 1952 in Versmold geborene Hans-Ulrich Treichel weitere Werke wie seine jüngste Erzählung „Tagesanbruch“ (2016). Von 1995 bis 2018 lehrte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

 
 
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