Diskussion um Olympia-Verschiebung „Wir sind in einem Schwebezustand“

Von Andreas Eberle
Der Bietigheim-Bissinger Oberbürgermeister Jürgen Kessing stellte sich am Samstagabend im Aktuellen Sportstudio den Fragen von Katrin Müller-Hohenstein – in seiner Funktion als DLV-Präsident. Weitere Gäste in der Sendung, die ohne Publikum stattfand, waren Boxerin Nadine Apetz und Radprofi Maximilian Schachmann. ⇥ Foto: Martin Hoffmann Berliner Str.31 via www.imago-images.de

DLV-Präsident Jürgen Kessing plädiert im ZDF-Sportstudio für eine Verschiebung der Sommerspiele. Auch der Wasserballer Timo van der Bosch und Schwimmerin Annika Bruhn würden das begrüßen.

Die Diskussion um eine Verschiebung der Olympischen Sommerspiele in Japan (24. Juli bis 9. August) nimmt Fahrt auf. Jürgen Kessing, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) und Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, war einer der ersten ranghohen Funktionäre, der sich für eine Verlegung stark machte und sich hinter die Forderungen vieler Athleten stellte. „Es sind ja Olympische Spiele der Sportler und nicht der Funktionäre. Wenn die Sportler schon große Bedenken haben, sollte man diese ernst nehmen“, sagte Kessing am Samstagabend als Gast im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF und nannte das Zögern und Zaudern des IOC in dieser Frage „schwer nachvollziehbar“. Der DLV-Präsident äußerte seinen „allergrößten Respekt“ gegenüber dem zugeschalteten Fechter Max Hartung, der in der Sendung seine Entscheidung mitteilte, im Sommer nicht an den Spielen teilzunehmen.

Keine Chancengleichheit

Mit Blick auf die derzeit „mehr als schlechten“ Trainingsbedingungen und die aktuell kaum noch stattfindenden Dopingkontrollen sieht Kessing die weltweite Chancengleichheit nicht mehr gewährleistet. „Wir haben unsere Athleten von den Trainingslagern zurückgeholt und alle Trainingslager in nächster Zeit abgesagt“, stellte der 62-jährige ehemalige Zehnkämpfer fest und wies darauf hin, dass durch die Corona-Krise nun die Wettkämpfe sowohl fürs Training als auch für die Qualifikation fehlen.

In der Luft hängen auch die beiden Athleten aus dem Kreis Ludwigsburg, die sich Hoffnungen auf ein Olympia-Ticket machen: die Topschwimmerin Annika Bruhn aus Ingersheim und der Wasserballer Timo van der Bosch vom Erstliga-Verein SV Ludwigsburg. „Wir befinden uns in einem Schwebezustand“, sagt Bruhn im Gespräch mit der BZ.

Bei der WM 2019 im südkoreanischen Gwangju war sie eine Garantin für die Olympia-Qualifikation der deutschen Teams über 4x100 und 4x200 Meter Freistil. Doch für Tokio müsste sich die 27-Jährige jetzt erst noch qualifizieren. Das Problem: Alle Quali-Wettkämpfe sind abgesagt worden. „Nun ist die Frage, wie es mit den Nennungen weitergeht. Eigentlich müssten auch die Normzeiten angepasst werden“, sagt Bruhn, die für die Neckarsulmer Sport-Union schwimmt. Wie Kessing plädiert sie für eine Verschiebung der Spiele auf einen späteren Zeitraum. „Olympia komplett abzusagen fände ich aber schlimm. Dann würde für viele Athleten ein Traum platzen.“ Die Studentin für Prävention und Gesundheitsmanagement war selbst bereits bei den Wettkämpfen 2012 in London und 2016 in Rio am Start und hat wegen der Vorbereitung auf ihre dritte Teilnehme sogar extra ein Urlaubssemester eingelegt.

In der vergangenen Woche habe sie noch am Olympiastützpunkt in Heidelberg trainieren können – „in Minigruppen mit drei Leuten und einem Trainer, die sich gleichzeitig in der Schwimmhalle aufhalten durften“. Diese Woche steht nun zunächst mal Trockentraining auf dem Programm. Aus dem Kraftraum ihres Vereins hat sie Hantelscheiben, Zugseile und Bälle ausgeliehen. Gemeinsam mit einer Neckarsulmer Teamkollegin hält sie sich so in der gemeinsamen WG fit. Außerdem will Bruhn regelmäßig Joggen und Radfahren.

Auch Timo van der Bosch war am Montag sportlich unterwegs. Der einzige Wasserball-Nationalspieler aus Süddeutschland bekam am Stützpunkt Heidelberg zwei jeweils zweistündige Slots zum Schwimmen zugeteilt. Weitere Trainingstage sind am Mittwoch und Donnerstag; am Dienstag und Freitag ist er dann in seinem Job als Polizeimeister beim Revier Ludwigsburg im Einsatz. „Unter den aktuellen Umständen ist Olympia nicht zu vertreten. Das würden keine Spiele sein, wie ich sie mir vorstelle und wünsche“, sagt van der Bosch. „Ich hätte kein gutes Gefühl, in Japan zu spielen, während die Welt in diesem Zustand ist.“

Noch ist die Auswahl des Deutschen Schwimmverbands (DSV) aber gar nicht für Olympia qualifiziert. Beim Qualifikationsturnier in Rotterdam, das von März auf die Zeit vom 31. Mai bis 7. Juni verschoben wurde, geht es um die letzten drei Plätze für Tokio. Der 26-jährige Center und seine Mitstreiter müssen bis dahin – oder bis zur nächsten Absage – also möglichst im Saft bleiben. Und dies, obwohl die Saison unterbrochen ist, das Mannschaftstraining ausfällt und die Trainingsmöglichkeiten begrenzt sind.

Sorge vor Dopingpraktiken

„Das können keine fairen Spiele mit den gleichen Voraussetzungen für alle Teams werden“, sagt van der Bosch und verweist auf Länder, in denen die Einschränkungen nicht so groß sind wie in Europa: „Ich weiß, dass zum Beispiel in Australien die Mannschaften noch zusammen trainieren.“ Auch das Thema Doping treibt den Ludwigsburger Wasserballer um: „Angeblich finden 80, 90 Prozent der Dopingkontrollen gar nicht mehr statt. Ich fürchte, dass einige Athleten die Gunst der Stunde nutzen und verbotene Mittel einnehmen.“

 
 
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