Neue Austellung mit Werken von Ernst Ludwig Kirchner Von der „Brücke“ zu den Berglern

Von Gabriele Szczegulski
Galerieleiterin Isabel Schenk-Weininger vor dem Bild „Schneeschmelze“ und der dazugehörigen Fotografie von Ernst Ludwig Kirchner.⇥ Foto: Martin Kalb

Ernst Ludwig Kirchner lebte 20 Jahre  bis zu seinem Freitod in der Schweiz.  „Tierleben in den Davoser Alpen“ in der Städtischen Galerie zeigt die dort entstanden Werke.

Mondän war das Schweizerische Davos schon in den 1920er- und 1930er-Jahren. Dem deutschen, expressionistischen Künstler Ernst Ludwig Kirchner (1880 bis 1938), schwer psychisch durch den Ersten Weltkrieg angeschlagen, war das egal. Seine Alkohol-, Morphin- und Tablettensucht wollte er bekämpfen. Der moderne Luftkurort interessierte ihn künstlerisch erst einmal gar nicht, sondern die Natur, Tiere und die Einheimischen, von ihm „Bergler“ genannt. Er suchte Ruhe – und fand sie.

Die Ausstellung „Tierleben in den Davoser Alpen“ in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen zeigt zum ersten Mal diesen bedeutenden künstlerischen Aspekt, der im Vergleich zu Kirchners Arbeit als Gründungsmitglied der „Brücke“ und treibende Kraft des Expressionismus ins Hintertreffen geriet, obwohl Kirchner in Davos eine weitaus größere Anzahl an Werke schuf als in Berlin.

Schon in der großen Halle der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen zeigen Fotografien, Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken, wie vielseitig Kirchners Darstellungsreichtum in seinem Rückzugsort war, der bald zum einzigen Wohnort wurde. Seine großen Fotografien gliedern die Ausstellung und zeigen eindrucksvoll das, was Kirchner beobachtete, bevor er das Motiv künstlerisch verwandelte.

Nur in Bietigheim-Bissingen: Zeitgenossen

Die Kooperation mit dem Museum Biberach, wo ein Großteil der Davoser Werke lagert, zeigt, dass Kirchner ein großer Erneuerer der alpenländischen Kunst war und die Motive mit expressionistischen Augen sah. Zwar legt der Name der Schau den Fokus auf die Tierwelt, vor allem auf sich bewegende Tiere, aber Motive sind auch Landschaften, die „Bergler“ und deren Arbeit. In seiner letzten Schaffensphase kommen Freizeitvergnügen der Touristen wie Bogenschießen, Sonnenbaden und Motorradfahren hinzu.

Eine Abteilung allerdings gibt es nur in Bietigheim-Bissingen, wo die Ausstellung zuerst gezeigt wird: Werke der Künstler, die ebenfalls eine Zeitlang in Davos lebten und mit Kirchner arbeiteten, dessen Wunsch es war, quasi eine zweite „Brücke“ in der Schweiz zu erschaffen, und das auch mit der Gruppe „Rot – Blau“ mit Albert Müller und Hermann Scherer versuchte. Auch die Künstlerfreunde Philipp Bauknecht aus Württemberg und Jan Wiegers aus den Niederlanden werden dargestellt.

Der Ausgangspunkt aller künstlerischen Arbeit in Davos ist die Natur, in der Kirchner zeichnete und in der er sich vor allem für die natürliche Bewegung von Tieren interessierte. Es scheint, als ob Kirchner beim Zeichnen mit den Tieren mitlief. Dabei war die Freilichtmalerei zu diesem Zeitpunkt unmodern geworden, vor allem bei Expressionisten, Kubisten oder Abstrakten.

Vom nervösen Maler zum
ruhigen Künstler

Als er 1917 nach Davos kam, ist Kirchner noch der nervöse Expressionist, der ein Meister der vielen Details ist, was erstmal auch so blieb. Sowohl in Gemälden als auch in Radierungen gibt es viel zu entdecken, sie sind wahre Bilderrätsel. Sehr expressionistisch, mit schnellem Strich und stark abstrahiert, sowie dem Einsatz von viel Farbe sind die Berge gestaltet. Vor allem der für Kirchner typische blaue Schatten sticht heraus. Doch mit der Zeit wurde Kirchner ruhiger und damit auch sein Strich. Die Flächen sind abgegrenzter, das Gegenständliche verliert sich, dann orientierte es sich an Schraffierungen, später wurde es gar Picasso-mäßig abstrakt.

In Themenbereiche unterteilt, zeigt die Ausstellung das Kirchnersche Gesamtkunstwerk, das auch die Holzskulptur einschließt. Kirchner gestaltete seine Häuser in Davos, zum Beispiel auf der Stafelalp, selbst, schnitzte Möbel, ließ Künstlerfreund Hermann Scherer die Verandapfosten gestalten, und machte Entwürfe für gewebte und gestickte Kissen, Vorhänge und Wandbehänge.

Sehr spät in Kirchners Schaffen taucht das Schaf auf. Zuvor waren es meist Ziegen, Kühe oder Pferde, die er abbildete. Sein vorletztes Werk zeigt eine grüne Schafherde: Der Hirte treibt die Schafe vor sich her. Christliche Symbolik tauchte nicht zum ersten Mal in Kirchners Werk auf: Hier ist es aber wohl kein guter Hirte, sondern einer, der die Tiere grob vor sich hertreibt. Ein paar Tage später erschoss sich der Künstler. Stärkster Grund für den Selbstmord war die Angst, von der Schweiz nach Nazi-Deutschland ausgeliefert zu werden. Ein Jahr später wurde sein Werk als „Entartete Kunst“ verboten.

Info Die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner: Tierleben in den Davoser Alpen“ in der Städtischen Galerie wird am Freitag, 25. Juni, mit einem Tag der offenen Tür von 14 bis 21 Uhr eröffnet. Ab 18 Uhr sind die Kuratorinnen aus Bietigheim-Bissingen und Biberach anwesend und werden Erklärungen und Einführungen zum Werk an verschiedenen Stationen geben. Eine Anmeldung ist nicht nötig und möglich, der Eintritt ist frei, Besucher brauchen keine Tests, nur das Maskentragen ist Pflicht.
Ergänzend wird im Altbau der Galerie die Ausstellung „Von Vierbeinern, Federvieh und Flügelwesen“ aus der eigenen Sammlung gezeigt. Beide Ausstellungen sind bis zum 3. Oktober zu sehen.

 
 
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