Michael Lutz-Dettinger aus Mundelsheim Arzt schockiert von Afghanistan

Von Walter Christ
Sanitätsstabsoffizier und Notarzt  Dr. Michael Lutz-Dettinger (stehend)  behandelt einen afghanischen Patienten in einem Rettungshubschrauber im Pamir-Gebirge nahe der afghanisch-chinesischen Grenze.  Foto: Privat

Der ehemalige Oberst-Arzt Dr. Michael Lutz-Dettinger aus Mundelsheim sorgt sich besonders um Mädchen und Frauen unter der Taliban-Herrschaft.

Gerade mal 20 Jahre ist es her, dass insgesamt 24 Nationen in Afghanistan ein zartes Freiheits-Pflänzlein setzten und hegten – um jetzt sehen zu müssen, wie es eingeht. Bestürzt und mit Wehmut, „ja, geradezu schockiert“, blickt der Leitende Notarzt und jetzige temporäre Impfarzt im Landkreis Ludwigsburg, Dr. Michael Lutz-Dettinger, auf die Entwicklung in dem rund 5000 Flug-Kilometer entfernten Krisenland.

Der Mundelsheimer, der auch Gründungsmitglied des Bietigheim-Bissinger Vereins „Kusaidia Afrika“ ist,  war 2004 und 2009 zwei Mal in Afghanistan als Leitender Sanitäts-Stabsoffizier der ISAF beziehungsweise für die Bundeswehr vor allem im Raum Mazar-i-Sharif vor Ort gewesen und erhält über den Hilfsverein Eschan Lüdenscheid und einen promovierten afghanischen Informanten immer noch stets aktuelle Informationen vom Drama am Hindukusch.

„Vor allem die Frauen und Mädchen tun mir unendlich leid“, berichtet der Mediziner von der Mädchenschule Atefa in Bagram, nördlich von Kabul, die er zusammen mit anderen Bundeswehr-Ärzten durch persönliche Spendengelder mit aufzubauen geholfen hat und weiterhin sehr unterstützt.

Diese Schule, aus der insgesamt mehr als 150 Lehrerinnen, Ärztinnen, Hebammen und andere gerade für dieses nun auch noch von einer extremen Hungersnot bedrohten Landes wichtige Berufsgruppen hervorgingen, sei nun beim Einmarsch der Taliban sofort geschlossen worden. Ihr drohe auch das endgültige Aus, so Lutz-Dettingers Befürchtung. Zumindest dann, wenn die Taliban mit ihren patriarchalischen Strukturen nicht einlenken sollten.

Michael Lutz-Dettinger: "Spendengelder in falsche Hände"

Rolf Scholten vom eingetragenen Verein Eschan Lüdenscheid befürchtet „für die nächsten Monate und Jahre Schlimmes“. Er berichtet inzwischen allerdings auch Positives. So könnten Studentinnen, die vor dem Examen stünden, in den meisten Fällen ihr Studium abschließen. Und man habe nun einen Weg gefunden, über Umwege Geld nach Afghanistan zu transferieren, sodass sowohl Studentinnen als auch Lehrerinnen und Angestellte, die noch immer kein Gehalt vom Staat bekämen, bezahlt werden könnten.

„Unsere Spendengelder sind teilweise in die falschen Hände geraten, nämlich in die der Taliban“, erinnert Lutz-Dettinger an die Ereignisse zuvor. Für ihn ist es „unvergesslich, mit welch leuchtenden Augen die Mädchen jeden Tag in die Schule kamen“.

Für die Taliban indes ist für Mädchen, insbesondere ab der sechsten Klasse, „Schule Sünde“. Ähnlich wie Musik hören, Sport, Tanz oder Fernsehen. „Man will die Mädchen und Frauen bewusst ungebildet lassen – ein unglaubliches Phänomen in heutiger Zeit!“, spricht der Arzt auch von „absoluter und menschenverachtender Katastrophe“.

„Dass die teilweise auch von Europäern ausgebildete afghanische Armee den Taliban keinerlei Widerstand geleistet und denen auch noch ihre Ausrüstung samt Waffen übergeben hat, also ebenfalls in die völlig falschen Hände, das hätte ich so krass nicht gedacht!“, ist für den 67-Jährigen eine weitere schlimme Erkenntnis.

Schulen und Brunnen in Afghanistan

Michael Lutz-Dettinger, der als Oberst-Arzt der Reserve einst per Großraum-Hubschrauber CH 53 vielen Minen-Opfern und Unfallverletzten helfen, mitunter das Leben retten konnte, ärgert sich über Teile der Medien, „die hierzulande fälschlicherweise suggerieren“, man habe das Land vereinnahmen wollen. Vielmehr seien in dieser Mission für die Freiheit doch über 100 neue Schulen, neue Brunnen, Straßen, große Überland-Stromleitungen und weitere Infrastruktur entstanden. Die vergangenen 20 Jahre seien somit auch keinesfalls umsonst gewesen. „Die Menschen dort waren jedenfalls sehr froh und dankbar“, erinnert er sich.

Am bedrückendsten empfindet der ehemalige Kommandeur der dortigen Sanitäts-Truppe bei den Heeresfliegern jedoch die Schilderungen des Leiters einer gemischten Schule in Afghanistan, der Eltern befragt hatte, warum immer weniger Mädchen zum Unterricht kämen. Den Eltern haben demnach die radikalen religiösen Fanatiker gesagt, dass für jedes Mädchen, das die Eltern weiterhin in die Schule schickten, ein Sohn umgebracht werde.

 
 
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