Reportagen-Projekt von BZ und EH „Ich bin etwas wert“

Von Leonie Wagner
Leonie Wagner studiert Internationale Soziale Arbeit in Ludwigsburg. In ihrem Praxissemester war sie bei der Organisation „Espacios de Mujer“ in Medellín. Die Stadt Medellín ist hinter ihr auf dem Foto zu sehen. Foto: privat/Leonie Wagner

Leonie Wagner studiert an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Während ihres Praxissemesters betreut sie traumatisierte Frauen in Kolumbien, die Menschenhändlern in die Hände fielen.

Katarina blickt in den Spiegel und sagt: „Yo soy una mujer hermosa“ – ich bin eine schöne Frau. Doch der Spiegel zeigt ein verhärmtes, älteres Gesicht, nichts deutet daraufhin, dass Katarina erst Anfang dreißig ist. „Ich bin unabhängig“, fügt sie mit brüchiger Stimme hinzu. „Ich bin intelligent. Ich bin etwas wert“. Schließlich strafft sie die Schultern, holt tief Luft und sagt: „Mama, ich liebe dich.“

Zweimal, dreimal, viermal wiederholt sie es mit zittriger Stimme, wie ein Mantra. Jahre lang hat sie sich diesen Satz von ihrem kleinen Sohn gewünscht, als sie tausende Kilometer von ihm entfernt festgehalten wurde. Als es nur galt, zu überleben. Jetzt kommen Tränen, Katarina schluchzt.

Zur Prostitution gezwungen

Fünfzehn Frauen haben sich mit ihr in einem Raum der Organisation „Espacios de Mujer“ (Frauenräume) versammelt. Jede kann eine ähnliche Geschichte erzählen: Jede wurde getäuscht, verschleppt und zur Prostitution gezwungen. In Lateinamerika, den USA, in Kanada und Europa.

Ich lernte Katarina und ihre Leidensgenossinnen kennen, als ich für mein Praxissemester – ich studiere Internationale Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg – ein Projekt in Lateinamerika suchte, das mit Frauen zu tun hat. Betty Pedraza hat die Organisation, die ihnen hilft, vor zwanzig Jahren im Zentrum von Medellín gegründet. Sie wird von einer italienischen NGO, vom Global Fund for Women und Spenden aus den Niederlanden gefördert. Ein wenig schießt auch der kolumbianische Staat zu.

„Anfangs ging es mir darum, Prostituierte aus den Barrios Medellíns zu holen“, sagt Betty Pedraza, eine dunkelhäutige Frau mit kantigen Gesichtszügen und einem breiten Lächeln. „Inzwischen kümmern wir uns ausschließlich um Frauen, die ins Ausland verschleppt wurden und es nach Jahren geschafft haben zu entkommen“.

Katarinas Leidensweg beginnt mit der Geburt ihres Sohnes Miguel, da war sie zwanzig. Er wurde mit einem Herzfehler geboren, brauchte Ärzte und Therapien. Die junge Mutter spülte Geschirr in einem Restaurant und hielt sich und ihren kranken Sohn mehr schlecht als recht über Wasser. Der Vater hatte sich davon gemacht, keine Seltenheit in Lateinamerika, wo männliche Dominanz und Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft verankert sind.

2022 wurden allein in Kolumbien 162 Fälle von Menschenhandel bei offiziellen Stellen registriert. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Denn nur wenige suchen Hilfe. Weil sie sich schämen, Angst haben oder immer noch gefangen sind. Niemand weiß, wie viele Frauen verkauft, missbraucht und getötet werden. Frauen, die fliehen konnten, möchten nicht riskieren, von den Tätern gefunden zu werden. Niemand kennt ihre Namen.

Nur scheinbar eine Bilderbuchidylle

Die Drei-Millionen-Metropole Medellín im Nordwesten Kolumbiens galt noch vor zwanzig Jahren als Hochburg des Drogenhandels in Lateinamerika. Das änderte sich, nachdem der Mathematiklehrer Sergio Fajardo 2004 als Bürgermeister angetreten war und vierzig Prozent aller städtischen Investitionen für Schulen und Büchereien in den Armenvierteln einsetzte. Sein Plan war, jungen Guerilleros, die nie zur Schule gegangen waren und nichts anderes kannten, als zu kämpfen, eine Perspektive zu bieten. Die Investition hat sich gelohnt. Inzwischen ist die Region befriedet und Touristen besuchen auch das Städtchen Guatapé eine Autostunde von Medellín, in dem Katarina aufgewachsen ist. Scheinbar eine Bilderbuchidylle: ganze Straßenzüge mit handbemalten Keramiken an Hausfassaden und mittendrin der Granitfels El Penon, über 700 Stufen führen hinauf, drumherum die Seenlandschaft Peñol. Doch Katarina stieg nie hinauf. Ihr Leben war eine einzige Überforderung.

Sie musste sich um ihren Miguel kümmern, ihr Ein und Alles, Schulgebühren und Ärzte bezahlen, in der Pizzeria Luigi Geschirr spülen und mit sehr wenig Geld über die Runden kommen. Als Miguel eingeschult wird, ist Katarina 26 und die Mutter einer Mitschülerin spricht sie am Schultor an. Eine kleine Plauderei, es folgen gegenseitige Besuche, die beiden freunden sich an, übernehmen abwechselnd die Kinder. Endlich nicht mehr allein. „Carmen wurde meine Freundin. Ich habe ihr vertraut“, erzählt Katarina. Drei Monate lang sehen sie sich fast täglich. Dann erzählt Carmen von einem Job in Lissabon: Vier Wochen für eine Textil-Firma Kleidung verkaufen, sie würden beide 3000 Dollar verdienen.

„Ich war ihr so dankbar“, erinnert sich Katarina, „es klang wie ein Traum. Flug, Unterkunft und Verpflegung würden auch bezahlt.“ Mit dem Geld könnte sie ein halbes Jahr ihre Miete bezahlen und ein bisschen Sicherheit für sich und den Sohn schaffen.

Im ersten Monat zog sie Tag für Tag durch die Straßen und Bars der Lissabonner Altstadt und bot Kleider feil. Als sie am Monatsende keinen Lohn erhielt, wurde sie misstrauisch. Auch zwei Wochen später sah sie noch kein Geld und verabredete sich mit ihrer Freundin Carmen im Café. Beide bestellten Cola, Katarina nahm einen Schluck – und ab da fehlt jede Erinnerung.

Am nächsten Morgen wachte Katarina in einem fremden Zimmer auf, fünf andere Frauen waren da. Alle trugen aufreizende Kleiner und waren stark geschminkt. Carmen war nicht dabei. „Ich hatte rot lackierte Fingernägel. Jemand hatte mich geschminkt und umgezogen – ich war völlig orientierungslos. Und hatte Angst. Sehr viel Angst.“ Der Albtraum begann. Sie wurde zur Prostitution gezwungen. Manchmal kamen die Freier für eine Stunde in dieses Zimmer, manchmal musste sie über Nacht zu Fremden. Wochen und Monate vergingen. „Und jede Sekunde war ein Grauen.“

Katarina fühlt sich bald wertlos, ekelt sich vor sich selbst, möchte sterben. Nur der Gedanke, dass sie für ihren kleinen Miguel durchhalten muss, hält sie am Leben. Wie sie es aus Portugal zurück nach Hause schafft, erzählt sie mir nur bruchstückhaft: Im kolumbianischen Konsulat riet man ihr, Anzeige zu erstatten.

Doch sie fürchtete um ihre eigene und die Sicherheit ihrer Familie. Irgendwie muss sie das Geld für den Flug zusammengekratzt oder geborgt haben. Zurück in Medellín geht sie zur Menschenrechtsdirektion von Antioquia und wird an „Espacio de Mujeres“ vermittelt. Mehr erzählt sie nicht.

Die Seele stellt sich tot

Ein Trauma ist eine innere Reaktion auf äußere Prozesse, die so verstörend wirken, dass Betroffene sie nicht mehr verarbeiten können. Ein Tier stellt sich in dieser Situation tot. Beim Menschen stellt sich die Seele tot: normale Mechanismen und Gedächtnisleistungen werden blockiert, erklärt Psychologin Ulrike Schneck vom psychosozialen Zentrum für traumatisierte Geflüchtete „refugio“ mit Sitz in Stuttgart. Die Psyche will nicht, dass das wirklich wahr ist.

Die eigene Geschichte mit anderen zu teilen, auf Verständnis anderer zu vertrauen: Das sind heilende Schritte, wie sie die Therapeuten auch in Medellín praktizieren. Während in Deutschland eher in Einzelsitzungen behandelt wird, setzen sie in anderen Ländern auf die stärkende Wirkung der Gruppe.

Die Frauen sind seelisch schwer verletzt. Sie leiden an chronischen Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen, Panikanfällen und Flashbacks. Gewalterfahrungen erschüttern lebensnotwendiges Vertrauen in Menschen und Gesellschaft. Sie hinterlassen tiefere seelische Wunden als Naturkatastrophen.

Schulabschluss schafft Perspektiven

An der Wand hängen Fotos, die Frauen mit ihren Zeugnissen zeigen. Betty Pedraza drängt ihre Schützlinge, einen Schulabschluss zu machen, um eine Perspektive zu haben. „Es ist für mich das größte Glück, die Frauen mit ihren Zeugnissen zu sehen, mit ihren Kindern und Eltern.“ Ich sehe auf den Bildern den Stolz in ihren Augen, vielleicht sogar Vorfreude auf die Zukunft.

„Mama, ich liebe dich!“ Jetzt ist es still. Ich höre nur Katarinas leises Weinen und spüre das Gewicht ihrer Worte, jede Frau in diesem Raum kann den Schmerz mitfühlen, sie stehen auf, umarmen sie, „Du schaffst es…Wir glauben an dich“.

Auch ich stelle mich vor den Spiegel und spüre die Frauen in meinem Rücken, es ist nicht nur Traurigkeit im Raum, sondern auch Kraft. Ich möchte sie umarmen und meine Zuneigung schenken. Merke aber, wie mir die Tränen kommen. Ich spüre den Verrat, den die Frauen erfahren haben. Aber ich spüre auch etwas Heilsames. Einen ersten kleinen Schritt.

Reportagen-Projekt von BZ und EH

In unregelmäßigen Abständen werden in der BZ Reportagen von Studentinnen und Studenten der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg erscheinen, in denen sie in Sozialreportagen von ihrem Praxissemester berichten. Die Evangelische Hochschule Ludwigsburg (EH) ist eine staatlich anerkannte Hochschule für Menschen jeglicher Orientierung, Konfession und Glaubensrichtung. Es gibt Bachelor- und Master- Studiengänge in den Bereichen Soziales, Diakonie, Pädagogik, Pflege und Religion.

 
 
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