Reportagen-Projekt von EH und BZ Ein Ankerplatz für Kinder in Not

Von Josia Zech
Josia Zech spielt mit den Kindern aus dem SOS-Kinderdorf in Oberberken. Foto:  

Der 22-jährige Josia Zech studiert „Bildung und Erziehung im Kindesalter“ an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Sein Praxissemester absolviert er im SOS-Kinderdorf Schorndorf-Oberberken. Für die BZ hat er eine Reportage über seine Arbeit dort geschrieben.

Anja war elf, als sie ins SOS-Kinderdorf kam. Sie war nicht unser krassester Fall, gehörte also nicht zu den vielen Kindern, die aus dem totalen Chaos kommen. Trotzdem berührte es mich sehr, wie verunsichert sie vor mir saß, den Blick nach unten gerichtet, die Schultern nach oben gezogen. Sie sprach leise und nur, wenn sie gefragt wurde. Sie kam zu uns, nachdem Freundinnen im Freibad ihre Blutergüsse entdeckt und der Lehrerin davon erzählt hatten. Die überzeugte Anja, sich dem Jugendamt anzuvertrauen.

Nach dem Eingangsgespräch fragte ich sie, ob sie Lust hätte, auf meinem iPad zu malen, und sie sagte, dass sie gerne zeichne. Und dann zeichnete sie echt gut eine dieser japanischen Animationsfiguren. Erst später fiel mir ein winziges Detail auf. Unten links, da stand ganz klein: „Ich will nach Hause“.

Es zog mir das Herz zusammen. Mir wurde klar, unter welcher Spannung die Kinder bei uns stehen. Anja wollte mir sagen: Hier bin ich in Sicherheit. Aber ich liebe meine Mama, auch wenn sie manchmal die Kontrolle verliert und mich schlägt. Diesen Zwiespalt habe ich bei fast allen Kindern beobachtet.

Das SOS Kinderdorf in Oberberken bei Schorndorf beherbergt hundert Jungen und Mädchen in sieben Dorffamilien, sieben Wohngruppen und einer Jugend-WG. Dazu gehören drei Kindergärten, eine Krippe und eine Ambulante Hilfe, die Eltern betreut, wenn sie Unterstützung brauchen.

Was ich über Eltern hörte...

Ich zähle mal auf, was ich in den sechs Monaten meines Praktikums über Eltern hörte, deren Kinder bei uns eine Zuflucht fanden: Eltern die alkohol- und drogenabhängig sind und ihre Kinder vernachlässigen. Eltern, die ihr Kind abgeben, weil sie überfordert sind und ihm an allem die Schuld geben. Eltern, die ihr Kind schlagen und in einem dunklen Raum einsperren. Eltern, die ihr Kind missbrauchen. In den ersten Wochen sehnte ich mich nach einer Welt, in der es so ein Leid für Kinder nicht gibt. Und fragte mich: Warum tue ich mir das an?

Einmal als ich mit Anja in der Küche stand und Gemüse fürs Mittagessen schnippelte, fing sie an, von ihrem Vater zu erzählen. Die zwei hatten kein gutes Verhältnis. Der Vater wäre lange weg gewesen, sagte sie, aber jetzt schriebe er wieder, sie wisse nicht warum. Sie war verwirrt und hatte keine Lust, mit ihm zu kommunizieren. Er habe sie immer wieder enttäuscht, verletzt und sei unzuverlässig gewesen. Jetzt habe sie Angst, dass das von vorn losginge.

Sie hätte zwei Möglichkeiten, sagte ich ihr. Entweder sie ließe sich auf ihren Vater wieder ein, mit dem Risiko, verletzt zu werden, oder sie breche den Kontakt ab und hätte keine Chance, sich zu versöhnen.

Ich konnte sie gut verstehen, weil ich ähnliches erlebe. Manchmal habe ich schwierige Zeiten mit meinem Vater. Aber er bleibt mein Vater, hat auch sehr viel Gutes für mich getan und ich liebe ihn. Mir hilft mein Glaube, ihm weiterhin zu begegnen.

Ich wollte Grundschullehrer werden

Ursprünglich wollte ich Grundschullehrer werden und jeder, dem ich davon erzählte, sagte, das würde gut zu mir passen. Dann hatte ich einen Traum, der mein Leben in eine andere Richtung lenkte: Könnte ich nicht eine Art Vater für Kinder sein, die keinen haben? Zum Beispiel in einem SOS-Kinderdorf? Ich finde schnell Nähe zu fremden Kindern und kann relativ schnell eine gute Bindung aufbauen, obwohl ich weiß, dass ich achtsam sein muss. Denn bei zu viel Bindung fällt die Trennung schwer. Ich werde deshalb später einmal nicht in der Inobhutnahme arbeiten, wo Kinder nur einige Wochen sind, sondern eher als Kinderdorfvater, dann kann ich sie jahrelang nah begleiten.

Zum Beispiel die achtjährige Luisa, ein sehr offenes Kind, das strahlend auf alle zugeht. Im vergangenen Jahr kam sie immer wieder zu uns, froh, von zuhause weg zu sein. Dann aber vermisst sie auch wieder die Mama. Luisa ist Autistin und anstrengend, ihr Vater ist weg, die Mutter überfordert und sagt: „Würdest du dich besser benehmen, dann würde alles besser klappen. Du hast Schuld.“ Sie erkennt nicht, dass auch sie selbst das Problem ist und verdreht die Verantwortung. Luisa war schon in mehreren Pflegefamilien. Die Sozialpädagogen vom Jugendamt sagen, jetzt sei es genug und überlegen, ob sie der Mutter das Sorgerecht richterlich entziehen lassen, damit Luisa einen dauerhaften Platz im SOS-Kinderdorf bekommt. Denn das Hin und Her ist nicht gut für sie. Alle Kinder brauchen einen festen Anker, einen Ort, wo sie wachsen und blühen können. Allen voran Annette, die Einzige, die nie zurück zu ihrer Mutter wollte. Als sie vor einem halben Jahr zu uns kam, war sie drei Jahre alt und konnte nicht viel außer jammern und schreien. Sie kauerte Tag und Nacht im Kinderwagen und klammerte sich an ein Legomännchen. Sie wusste nicht, wie man von einem Brot abbeißt und feste Nahrung zu sich nimmt, nichts. Niemand hatte ihr das gezeigt. Sie konnte nicht sprechen. Sie wusste nicht, wann Tag und wann Nacht ist. Wann es Mahlzeiten gibt und wann Schlafenszeit ist. Immer musste jemand bei ihr bleiben. Wenn sie überhaupt einmal einschlief, dann nur vor laufendem Fernseher.

Von dem Sozialpädagogen Volker Grimm, der das Inobhutnahme-Haus für Kinder im Alter von null bis elf Jahre leitet, erfuhr ich, dass Annettes Mutter eine schwere Psychose hat und an Verfolgungswahn leidet. In ihrem Zimmer waren immer die Jalousien unten. Sie ließ niemanden rein und Annette nie raus, drei Jahre lang. Anettes Vater war weg. Ich habe gelernt, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder total vernachlässigen. Solchen Kindern hilft es am Anfang nicht, lieb zu sein, zu sagen komm, setz dich zu mir, wir spielen ein Puzzle. Es dauert lange, bis so etwas geht und sie Vertrauen gewinnen. Doch die kleine Annette, die gesund zur Welt kam, kann diese fehlende Entwicklung nie mehr aufholen. Sie wird ihr Leben lang Einschränkungen haben. Sie hat Narben, die von Zigaretten stammen. Als die Polizei anrückte, um sie abzuholen, mussten sie die Mutter überwältigen und ihr das Kind entreißen. Jetzt ist es hier. Und abwechselnd fahren wir sie vom Fernseher weg im Kinderwagen spazieren und hoffen, dass sie einschläft. Aber: Seit kurzem kann sie ein Brötchen aus der Tüte holen und sich in den Mund stopfen. Und sogar ein paar Worte sagen und selbstständig trinken. Wie haben wir uns gefreut.

Die meisten sind entwicklungsverzögert

Von Linda Krebs, die als Pflegerin für Heilerziehung im Haus der Inobhutnahme arbeitet, habe ich viel gelernt. Die meisten Kinder in ihrer Obhut sind extrem entwicklungsverzögert. „Sie kommen aus sehr kritischen Verhältnissen“, sagt sie. „Wenn möglich, kooperieren wir mit den Eltern. Bei der kleinen Annette war das nicht möglich“. Als sie mit dem Kind zu einem Treffen mit ihrer Mutter fuhren, rannte die Kleine beim ersten Anblick der Mutter weg. „Wie vor einer Bedrohung“, sagt Volker Grimm. „Diese Entwicklungsdefizite aufzuholen sind unmöglich. Sie und andere Kinder bei uns haben Beziehung nicht als etwas Schönes erlebt, sondern als etwas Unberechenbares, Gefährliches.“ Für Volker Grimm war es immer wichtig, sich im Bereich Kinderschutz weiterzubilden. Mein Platz nach dem Studium wäre eher als Vater in einer Kinderdorffamilie. Mein Traum ist eine eigene Pflegeeinrichtung aufzubauen und Waisenkinder aufzunehmen. Und im Sommer Kinder-Feriencamps zu organisieren. Ich möchte Nähe zulassen. Eine Verbindung aufbauen, beim Klettern und Schaukeln, Trampolinspringen und Schubkarrenrennen. Ich spüre den riesengroßen Liebeshunger aller Kinder. Nach sechs Monaten ahnte ich: Das hier ist für die Kinder eine Art Heimat. Ich frage mich aber, wie viele vernachlässigte Kinder es noch gibt, um die niemand kämpfen wird, denen nie jemand eine Heimat anbieten wird. 

Reportagen-Projekt von EH und BZ

In unregelmäßigen Abständen werden in der BZ Reportagen von Studentinnen und Studenten der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg (EH) erscheinen, in denen sie in Sozialreportagen von ihrem Praxissemester berichten.

 
 
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