Sachsenheim „Die Figuren sind immer bei mir“

Von Jonathan Lung
Claire Beyer stellte in Großsachsenheim ihr neuestes Buch „Revanche“ vor Foto: /Werner Kuhnle

Claire Beyer las im Sachsenheimer Tender – und nahm die Zuhörer mit nach Madeira. 

Das erste Mal seit der Pause, zu der die Pandemie kulturelle Veranstaltungen zwang, sei sie nun wieder auf der Bühne und lese vor Publikum, freute sich Claire Beyer.

Am Freitagabend hatte sie im Sachsenheimer Tender Platz genommen, dem 1997 geschlossenen Bahnhofsgebäude, das genau 20 Jahre später zum Kulturtreffpunkt des IBISA e.V. umfunktioniert wurde. Die Lesung war eine Kooperation der Stadt mit dem Verein.

Debüt mit dem Roman „Rauken“

Vor dem ehemaligen Kartenschalter saßen nun also Zuhörer an Tischen - durchaus viele für eine Lesung, befand Beyer: „Damit füllen Sie keine Säle“, schmunzelte sie bescheiden. Dabei war ihr mit „Rauken“ im Jahr 2000, ihrem Romandebüt, nachdem sie zuvor Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlichte, direkt der Erfolg gelungen. Es folgen vier weitere Romane, sie erhielt Preise wie das Große Landesliteraturstipendium Baden-Württemberg und den Journalistenpreis der Robert Bosch Stiftung.

An diesem Abend wollte Claire Beyer aus ihrem neuesten Buch lesen: „Revanche“. Eine Familiensaga, die mit dem Großvater August beginnt, der, als Bauernsohn aus Pommern kommend alles verliert, in Ludwigsburg in die Kaserne kommt und in den Weltkrieg zieht.

Seinem Sohn gelingt dann als Fabrikant der wirtschaftliche Durchbruch, sodass wiederum sein Sohn, Tobias, als etwas verwöhnter, aber unter der Ablehnung des Vaters leidender Mann aufwächst. Inzwischen 50jährig macht sich Hauptperson Tobias schließlich auf die Suche nach seinem Onkel Fritz: dieser, in der Familie nicht wohl gelitten, verschwand vor Jahren spurlos. Eine letzte Postkarte wurde auf Madeira gestempelt, wo Tobias nun einen Privatdetektiv mit der Suche beauftragt. Doch die Reise wird schnell zu einer Reise zu sich selbst, in der der die immer noch quälende Unsicherheit im Leben und das Verhältnis zum Vater hochkochen.

Mit seiner Landung auf Madeira begann Beyer ihre Lesung, nahm die Zuhörer mit auf die Insel, die sie so präzise und eindrücklich beschrieb, dass man fast an der Seite von Tobias durch die Straßen von Funchal ging. Es ist einer von vielen internationalen Orten, an denen sie ihre Bücher spielen lässt und die sie aus eigener Anschauung kennt – ein anderes Buch etwa spielt in Lappland.

Gespräch mit dem Publikum

Nach der Lesung nahm sich die Autorin noch viel Zeit, mit ihrem Publikum ins Gespräch zu kommen und für die Fragen, von denen es einige gab. So etwa zu ihrem Verhältnis zu den Protagonisten ihrer Bücher: „Die Figuren sind immer bei mir, wenn ich schreibe“, manchmal verselbstständigten sich die Charaktere schier. „Die Figuren begleiten mich noch lange nach Buchende, sie gehen langsam“, seien Teil ihres Alltags, auch nachts im Traum.

In der „blauen“ Stunde produktiv

Schrieb sie früher noch bis spät in die Nacht, steht sie nun um vier Uhr morgens auf: Die „blaue Stunde“ ist für Beyer die Zeit höchster Produktivität – absolute Ruhe, ein erholter Körper. Sie schreibe bis sechs, mache sich einen Kaffee und arbeite dann den ganzen Vormittag durch. Absolute Ruhe sei ideal, sie wäre „am liebsten auf einer Insel, ganz allein“, lachte die Autorin. Schon kleine Störungen könnten bewirken, dass sie nicht in die „Tiefenphase“ komme, die sie fürs Schreiben benötige.

Bei weiteren Geschichten über strenges Lektorat, die Suche nach einem Verleger für ihr erstes Buch, die besondere Welt der Frankfurter Buchmesse und auch ihre Allgäuer Jugend saß man so bis spät in die Nacht im Sachsenheimer Tender bei Wein und Salzgebäck beisammen. Nur eine Frage sollte ungeklärt bleiben: Warum alle ihre Romane mit dem Buchstaben „R“ beginnen: Das will die Autorin erst nach dem zehnten verraten.  Jonathan Lung

 
 
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