Vor wenigen Jahren noch wünschten sich Kinder und Jugendliche beim Schülergipfel Basketballkörbe für den Schulhof oder ein neues Sofa für den Aufenthaltsraum. Heutzutage wünschen sie sich mehr Angebote rund um mentale Gesundheit – für sich, aber auch in Form von Aufklärungsveranstaltungen für ihre Eltern. Sie wünschen sich die Förderung von sozialem Miteinander und dass mehr über kulturelle Unterschiede aufgeklärt wird. Das sind sehr ernste und erwachsene Themen, über die sich die Schülerinnen und Schüler Gedanken machen – nicht ohne Grund.
Schulsozialarbeiter schlagen Alarm „Schule muss sich verändern“
Die Schulsozialarbeiter Frank Schneider und Janina Müller on „Das Netz – Jugendförderung Bietigheim-Bissingen“ berichten von einer alarmierenden Anzahl von Schülern mit Ängsten. Handeln sei nötig.
Immer mehr psychische Probleme
„Von Jahr zu Jahr stellen wir mehr psychische Probleme und Auffälligkeiten bei den Jugendlichen fest“, sagt Janina Müller. Sie ist Teil von „Das Netz – Jugendförderung Bietigheim-Bissingen“ und betreut als Schulsozialarbeiterin die Realschule im Aurain. Seit vier Jahren ist sie in der Schulsozialarbeit tätig, zuvor an Ludwigsburger Schulen. Dieses Phänomen jedoch bemerke man an jeder Schule, unabhängig vom Ort oder der Schulart.
Vermehrtes Auftreten von Ängsten, allen voran sozialen Ängsten, beobachten Schulsozialarbeiter seit einigen Jahren, die Corona-Pandemie habe das verschlimmert. Frank Schneider ist der stellvertretende Leiter von „Das Netz“ und ebenfalls Schulsozialarbeiter. Er unterstützt Müller in der Aurain-Realschule als 50-Prozent-Kraft. Schneider verweist auf den DAK-Gesundheitsreport 2023. Demnach haben Angststörungen bei Jugendlichen um 44 Prozent zugenommen im Vergleich zu 2019, Depressionen um 24 Prozent und Essstörungen um über 50 Prozent. „Die Zahlen beziehen sich auf die vielen Kinder und Jugendlichen, die sich Hilfe geholt haben. Die Dunkelziffer ist viel höher“, sagt Schneider. Janina Müller ergänzt: „Und wir haben hier quasi nur die Dunkelziffer.“
Schüler und Schülerinnen wenden sich an Müller und Schneider, was ein guter und wichtiger Schritt ist, sind sich die Schulsozialarbeiter einig. Entscheidend sei dann aber, die Jugendlichen auch in einer dementsprechenden Therapie unterzubringen. „Es gibt schlichtweg zu wenig Angebote“, sagt Schneider. Im Kreis Ludwigsburg gebe es eine Warteliste von gut einem Jahr für einen Therapieplatz, so Müller und weiter: „Wir müssen als Schulsozialarbeiter im sozialpädagogischen Sinne therapeutische Methoden anwenden, um die Zeit zu überbrücken, bis die Kinder und Jugendlichen einen Therapieplatz bekommen.“
In Bietigheim-Bissingen gebe es das Glück, dass viele der Schulsozialarbeiter auch einen therapeutischen Hintergrund hätten, berichtet Schneider, sagt aber auch ganz deutlich: „Wir können keine Therapie bieten.“
Jedoch hat „Das Netz“ für die Schulen in Bietigheim-Bissingen ein Projekt-Team zusammengestellt, bestehend aus „Das Netz“-Mitarbeitern, die eine therapeutische Ausbildung haben. „Bei hohem Bedarf kommt jemand aus dem Projekt-Team und führt nach einem ersten Kennenlernen alle zwei Wochen ein einstündiges Einzelgespräch mit dem betroffenen Schüler“, berichtet er. Auch Eltern können, müssen aber nicht involviert werden. Die Beratung werde fortgeführt, solange der Schüler die Hilfe braucht oder im Idealfall einen Therapieplatz hat.
Prävention statt Reaktion
Für die beiden Schulsozialarbeiter ist jedoch klar, dass es nicht hilft, nur auf die Probleme zu reagieren, wenn sie schon da sind. Es muss präventiv vorgegangen werden. „Schule muss sich verändern“, fordert Schneider daher. Schule müsse zum Lebensraum werden. Denn der Schulalltag werde immer länger, auch wegen der Ganztagsangebote.
In der Schule müsse der Unterrichtsstoff gepaukt werden, jedoch dürfe auch das Soziale nicht zu kurz kommen. „Schule kommt aus der Verantwortung nicht mehr heraus.“ Es könne nicht alles auf die Eltern und die wenigen Stunden am Abend, die den Jugendlichen als „Freizeit“ bleiben, verlagert werden. Und die Zeit dränge.
Suizidgedanken in Grundschulen
„Es gibt Effekte, die wir so nicht kannten“, sagt Schneider. Suizidgedanken in der Grundschule seien nicht normal, und wirklich besorgniserregend. Psychische Probleme treten immer häufiger und bei jüngeren Kindern auf, so die Beobachtung der Schulsozialarbeiter. Auch das schreiben Experten dem fehlenden sozialen Miteinander während der Corona-Zeit zu.
Glaube man den Statistiken, könnte der Höhepunkt erreicht und Besserung in Sicht sein, man müsse aber vorsichtig sein mit solchen Vermutungen, sagt Schneider: „Wir geben keine Entwarnung, denn bei uns sind aktuell alle am Limit.“ Es sei kaum personell und zeitlich möglich, präventiv zu arbeiten, was jedoch wichtig sei. Das Prinzip „Feuerlöscher“ helfe nicht nachhaltig. Es sei das System, das sich ändern müsse, Schule müsse neu gedacht werden.
Eben diesen Wunsch nach Veränderung habe man auch am Schülergipfel ablesen können. „Schüler wünschen sich ‚mentale Gesundheit’ als Unterrichtsfach“, sagt Müller. Es gehe dabei auch darum, dass das Thema enttabuisiert wird. „Viele haben Angst, dass sie bloßgestellt werden, wenn sie sich Hilfe holen.“ Aber auch Mobbing sei nach wie vor ein großes Problem. Die Themen seien zwar die selben wie vor zehn Jahren: Äußerlichkeiten oder der kulturelle sowie religiöse Hintergrund. Die Intensität jedoch, die habe sich verändert. Ist man früher nach der Schule nach Hause gegangen, wo man nicht mehr den Klassenkameraden ausgesetzt war, ist durch das Internet nun auch im geschützten Rahmen des Zuhauses Mobbing möglich, über die Sozialen Medien.
Was das soziale Miteinander auch herausfordere, seien die großen Unterschiede. „Einige Schüler wachsen in einem extrem konservativen und homophoben Elternhaus auf, andere haben ihr Coming-out“, so Schneider. Die Unterschiede seien teils kaum zu überwinden. „In der Schule ist man auf engstem Raum.“ Das Aufsuchen der Schulsozialarbeiter sei auf freiwilliger Basis, können jedoch Sozialstunden in den Lehrplan integriert werden, so spreche man alle an.
Wichtig sei auch, die Lehrer und Lehrerinnen nicht zu vergessen. Sie müssten in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, denn: „Sie berichten von der Basis“, sagt Schneider. Längst bestehe der Lehrerberuf nur noch zur Hälfte aus Unterricht. Lehrer seien die ersten Ansprechpartner bei sozialen Problemen. „Gerade Klassenlehrer werden auch abends oder am Wochenende von Schülern oder Eltern angerufen“, so Schneider. Es sei auch keine Seltenheit, dass Lehrer die Schulsozialarbeiter aufsuchen, um sich Rat zu holen. „Es ist ein tolles Miteinander“, lobt Müller.
Grob rechnet man mit einer Schulsozialarbeiterstelle ab 200 Schülern, „auch wenn man damit der derzeitigen Lage nicht gerecht wird“, so Schneider. Dabei sei die Situation in Bietigheim-Bissingen noch gut, der Austausch mit Gemeinderat und Stadtverwaltung funktioniere reibungslos. Man könne flexibel und schnell auf Bedarfe reagieren, das sei nicht selbstverständlich.