Sexuelle Belästigung im Kreis Ludwigsburg „Die Schuld liegt allein beim Täter“

Von Heidi Vogelhuber
Kommt es zu sexueller Belästigung, ob auf offener Straße, im privaten Raum oder am Arbeitsplatz, sollte das gemeldet werden, sagt Grabenstein. „Zum Schutz für sich und andere.“ Foto: Jöran Steinsiek/Imago

Steigt die Zahl an Fällen sexueller Belästigung im Kreis Ludwigsburg oder wird öfter Anzeige erstattet? Wie verhält man sich im Ernstfall richtig? Die BZ hat bei Polizei und Landratsamt nachgefragt.

Eine 31-Jährige lief vom Bahnhof in die Bietigheimer Innenstadt. Auf Höhe einer Bar, kam ein Mann sehr nah von hinten an sie heran. Obwohl sie ihn aufforderte, Abstand zu halten, griff er ihr an den Po und stellte ihr eine anzügliche Frage.

Eine 19-Jährige ging von einem Lokal in der Mühlwiesenstraße in Bietigheim zu einem Parkplatz unterhalb der B 27. Kurz davor schlug ihr ein Mann mit der Hand auf den Hintern und fragte sie nach sexuellen Dienstleistungen.

Erst vor Kurzem waren diese beiden Polizeimeldungen in der BZ zu lesen – und sie sind nicht die einzigen, die in jüngerer Vergangenheit veröffentlicht wurden. Häufen sich die Fälle? Was gilt als sexuelle Belästigung und was können Betroffene tun? Die BZ hat beim Polizeipräsidium Ludwigsburg, bei Cynthia Schönau, der Gleichstellungsbeauftragten des Kreises, und bei Dr. Uschi Traub, Leiterin des Fachbereichs Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung im Landratsamt Ludwigsburg, nachgefragt.

Kommt sexuelle Belästigung in letzter Zeit tatsächlich häufiger vor?

Am jährlichen Sicherheitsbericht der Polizei ist ablesbar, dass 2023 im Kreis 53 Fälle der sexuellen Belästigung bei der Polizei gemeldet wurden, und damit 16 Fälle oder 43,2 Prozent mehr als im Vorjahr. „Eine seriöse Einschätzung zur Dunkelziffer ist nicht möglich, wenngleich wir davon ausgehen, dass sicherlich viele Fälle nicht bei der Polizei gemeldet werden“, sagt Steffen Grabenstein, Sprecher des Polizeipräsidiums Ludwigsburg. Dabei handle es sich vor allem um Taten im privaten Bereich. Fälle, bei denen Männer Opfer wurden, werden auch selten gemeldet.

Insgesamt ist die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Missbrauch, Belästigung, Vergewaltigung) im Kreis 2023 von 416 auf 448 Fälle angestiegen, was einem Zuwachs von 7,7 Prozent entspricht. Fast 89 Prozent der bekannt gewordenen Straftaten konnte das Polizeipräsidium Ludwigsburg aufklären, daher rät Grabenstein: „Zum Schutz für sich selbst vor weiteren Übergriffen und auch zum Schutze anderer, sollten Straftaten konsequent angezeigt werden.“ Sind Verletzungen entstanden, sollten diese dokumentiert, Beratungs- und Hilfsangebote (siehe Infobox) genutzt werden. „Es ist keine Schande, zum Opfer einer Straftat zu werden, die Schuld liegt einzig und allein bei den Täterinnen und Tätern“, betont Grabenstein.

Oder steigt die Zahl, weil insgesamt mehr Fälle angezeigt werden?

Ob sich insgesamt das Anzeigeverhalten verändert hat, lasse sich nicht ohne weiteres sagen, so der Polizeisprecher. Seit Inkrafttreten des Paragrafen 184i StGB Ende 2016 als Reaktion auf die Vorfälle in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln herrsche zumindest Rechtssicherheit. „Zuvor war beispielsweise das ‚Grapschen’ an Gesäß oder Brust nirgendwo eindeutig erfasst. Vielmehr musste umständlich über den Paragrafen 185 StGB (Beleidigung) argumentiert werden“, sagt Grabenstein. „Das mag durchaus zu einem Anstieg der Anzeigeerstattungen geführt haben, dürfte sich nach mittlerweile über sieben Jahren jedoch nicht mehr auswirken.“

Was gilt als sexuelle Belästigung?

Bei dieser Frage müsse differenziert werden, sagt Grabenstein. Strafrechtlich sei der Paragraf 184i StGB einschlägig, der unerwünschte sexuell motivierte körperliche Berührungen unter Strafe stellt. „Hier ist also Voraussetzung, dass es zu einem Körperkontakt zwischen Täter und Opfer kommt, rein verbale Belästigungen reichen nicht aus.“ Abweichend davon können auch unerwünschte verbale oder nichtverbale Äußerungen mit sexuellem Bezug Konsequenzen nach sich ziehen, erklärt er, zum Beispiel arbeitsrechtliche (von Ermahnung über Abmahnung bis hin zur Kündigung).

Gibt es „Hotspots“ in Bezug auf sexuelle Belästigungen im Kreis?

„Örtliche Hotspots im engeren Sinne gibt es bei uns nicht“, sagt Grabenstein. Erfahrungsgemäß steige die Gefahr von sexuellen Belästigungen bei größeren Feiern, Festen, Veranstaltungen, „wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen und mit steigendem Alkoholpegel die Enthemmung abnimmt.“

Wie wichtig ist es, sexuelle Belästigung öffentlich zu thematisieren?

„Sehr wichtig“, sagt Cynthia Schönau, Gleichstellungsbeauftragte des Kreises. „Angefangen beim alltäglichen Sexismus, der den Nährboden für sexuelle Belästigung und Gewalt darstellt.“ Wichtig sei, dass die Grenze immer die betroffene Person setze. „Diese Grenze gilt es zu respektieren.“ Sexuelle Belästigung sei ein strukturelles und damit gesellschaftliches Problem. „Im Kreis sind über 80 Prozent der Opfer von Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Frauen.“ Je mehr man das Thema aus der Tabu-Zone hole, desto mehr könne Sensibilisierung – auch von tatgeneigten Personen – und eine klare Null-Toleranz-Haltung der Gesellschaft erfolgen. Prävention jedoch, also Handeln, bevor etwas passiert, sei das A&O, so Schönau.

Was macht sexuelle Belästigung mit den Opfern?

„Jeder sexualisierte Übergriff – unabhängig davon, ob und wie viel körperliche Gewalt ausgeübt wurde – ist für die Opfer äußerst demütigend und verletzt ihr Selbstbild und Selbstwertgefühl. Dies ist ein zentraler Unterschied zu anderen Gewaltformen“, sagt Dr. Uschi Traub vom Gesundheitsdezernat. Die unmittelbaren Folgen von jeder Form von sexualisierter Gewalt seien vielfältig – von Panikattacken und Angstzuständen, Schlafstörungen, Albträumen, Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, Essstörungen, Depressionen bis hin zu Suizidgedanken. Deshalb sei der öffentliche Diskurs auch so wichtig. „Betroffene müssen sich trauen, Hilfe zu holen und sie müssen wissen, wo sie diese Hilfe bekommen“, so Traub.

Was hat es mit Klischees wie „das lag am kurzen Rock“ auf sich?

„Wenn der nagelneue Porsche vor der Haustür steht und geklaut wird, ist da auch der Besitzer oder die Besitzerin schuld? Da stellt niemand in Frage“, sagt Schönau. Bei der Aktion im Rahmen der Kreiskampagne „Orange Bank“ beim LBC Jugendtreff in Ludwigsburg habe ein Mädchen treffend auf die Straße geschrieben: „It’s a dress, not a yes“.

Was kann auf der politischen Ebene geleistet werden?

„Sexuelle Übergriffe und sexualisierte Gewalt spiegeln in aller Regel auch ein Machtgefälle wider. Woher kommt dieses? Hier spielen viele Faktoren eine Rolle wie Kulturgeschichte, tradierte Rollenbilder, Aufteilung der Sorgearbeit und finanzielle Abhängigkeit“, sagt Schönau. Und damit sei man beim Thema Gleichstellung. Diese sei eine unabdingbare Grundlage für ein gelingendes Miteinander. „Daher sollte diesem Thema ein höherer Stellenwert in der Politik eingeräumt werden.“

Handlungsempfehlungen im Ernstfall und Beratungsstellen

Wie verhält man sich, wenn man zum Beispiel auf offener Straße sexuell belästigt wird?
Auch wenn eine pauschale Beantwortung dieser Frage schwierig sei, hat Polizeisprecher Steffen Grabenstein kurz zusammengefasst vier Tipps:

Beratungsstellen (Auswahl) für den Kreis:
Allgemeine Opferhilfe: Weisser Ring e.V. – Außenstelle Ludwigsburg, Telefon (0711) 90713990

Kreis-Unterstützungsangebot „Soforthilfe nach Vergewaltigung“ in der RKH-Klinik Ludwigsburg, Posilipostraße 4, Infos online unter www.soforthilfe-nach-vergewaltigung.de

 
 
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