Sind ältere Menschen durch ihre Erlebnisse krisenfester? „Wir konnten früher gar nicht horten“

Von Heidi Vogelhuber
Im Enzpavillon in Bietigheim-Bissingen berichten Mitglieder der Aktiven Senioren über ihre Erfahrungen in Krisenzeiten (von links): die Ehepaare Theresa und Ottmar Wagner, Helga und Friedrich Laun, sowie Ursula Brunn.⇥ Foto: Martin Kalb

Fünf Mitglieder der Aktiven Senioren Bietigheim-Bissingen erinnern sich an die Nachkriegszeit. Kommen ältere Menschen besser durch die Corona-Zeit, da sie krisenfester sind? Eine Gesprächsrunde.

Klopapier wird zuhauf gebunkert, Mehl und Hefe gehortet, Konserven stapeln sich in der Vorratskammer. Was halten eigentlich ältere Mitmenschen, die den Krieg durch die Eltern oder zum Teil auch selbst hautnah erlebt haben, von solchem Verhalten, das einige in der Corona-Zeit an den Tag legen? Fünf Mitglieder des Vereins Aktive Senioren Bietigheim-Bissingen haben sich bereit erklärt, von ihren Erfahrungen über Verzicht, Hunger und dem Überstehen von Krisen zu reden.

„Ich bin in einem kleinen Provinzstädtchen im Rheinland aufgewachsen. Wir waren schon ziemlich ausgehungert und standen viel an, um Essen zu bekommen“, erinnert sich Theresa Lessnig-Wagner, die 1938 geboren ist. „Manchmal haben wir sogar getrocknete Kartoffelschalen gekauft“, sagt die Seniorin. Ihre Mutter sei eine Trümmerfrau gewesen und habe tatkräftig beim Wiederaufbau geholfen, die Kinder mussten sich auch einbringen. „Uns wurde beigebracht, dass wir stets versuchen sollen, etwas aufzutreiben, das man essen kann“, sagt Lessnig-Wagner.

Die Jugend war anders

Die Jungmädchenzeit habe sich sehr von der heutigen unterschieden. „Wir kommen besser zurecht, auch in der jetzigen Krisenzeit, weil die Entbehrung noch fest in unserem Kopf verankert ist“, so ihre Einschätzung. „Man kaufte eben, was ging, später wurde dann eh alles mit Lebensmittelmärkchen rationiert“, sagt sie.

Ihr Mann, Ottmar Wagner, ist 1945 in der DDR geboren und lebte mit seinen Eltern in einem kleinen Dorf an der Zonengrenze. „Jeder hatte noch einen kleinen Acker und zwei Schweine und eine Kuh“, berichtet Wagner. Man sei als Selbstversorger durchgekommen. Als er acht Jahre alt war, hätten seine Eltern beschlossen, die Großmutter in Hessen zu besuchen – ohne Rückfahrticket, was natürlich keiner ahnen durfte. Also wurden zwei Koffer gepackt, das einzige Hab und Gut der Familie, das sie mitnehmen konnten. „In Saus und Braus lebten wir nicht, aber die Versorgung war gewährleistet“, sagt Wagner. Toilettenpapier gab es damals übrigens nicht, sagt Wagner und die Gesprächsrunde nickt zustimmend. Zeitungsfetzen am Nagel waren der Standard. Dass heutzutage Klopapier gehortet wird, können die Rentner überhaupt nicht nachvollziehen. „Das ist doch auch kein Verzicht, was sich im Frühjahr abspielte“, sagt Wagner. Es gebe immer noch alles im Überfluss, auch wenn mal ein Regal leer stehe.

„Diese unendliche Vielfalt und Fülle, die wir heute kennen, gab’s damals nicht, daher konnte gar nicht gehortet werden“, sagt Ursula Brunn. „Aber wir haben unsere Sachen geschätzt“, so die 1941 in Schlesien Geborene. Ihr Vater hatte nahe der polnischen Grenze eine Bäckerei, daher sei man zu dem Zeitpunkt recht gut über die Runden gekommen, während der Flucht 1945 jedoch, begann eine schwere Zeit für die siebenköpfige Familie. Der Vater musste zurückbleiben und wurde für den Volkssturm verpflichtet. Die Mutter floh mit den fünf Kindern. „Zwei Tage reisten wir auf einem offenen Lkw bei Schnee und Regen bis Lüben.“ Mit dem Zug ging es weiter nach Dresden, dort hatte die Familie einen Verwandten. „Wir kamen in seiner Drei-Zimmer-Wohnung unter, jedoch hausten dort schon 13 andere.“ Vor allem die Bombenangriffe seien schrecklich gewesen. Auch die weitere Reise blieb erschwerlich. Vertrieben von den Russen sei die Mutter so verzweifelt gewesen, dass sie eine Straße entlang ging und an jeder Haustür klingelte, um nach Obdach zu fragen. Letztendlich kamen sie in einer Werkstatt unter, in der sie vier Jahre wohnten. „Wir hatten wirklich gar nichts. Dank anderer Frauen kamen wir an Teller und Besteck. Ich geb’s zu, wir haben auch viel geklaut“, sagt Brunn. „Wenn meine Mutter nicht so ein Organisationstalent gewesen wäre, weiß ich nicht, wo wir geendet wären.“

„Wir haben zwei Monate kein Fleisch gegessen, um Marken zu smameln, damit es zu meiner Erstkommunion ein Festmahl geben konnte“, erinnert sich Brunn an rationiertes Essen. Ursula Brunn machte eine Lehre im Büro bei der Sparkasse. Dort habe man die Lehrlinge eingeteilt, sie mussten losrennen, wenn bekannt wurde, dass es wieder etwas zu holen gab in den Läden. „Es wurde alles mitgenommen, was es gab. Man konnte es ja auch tauschen“, erinnert sich Brunn.

Theresa Lessnig-Wagner erinnert sich an ähnliche Erzählungen ihrer Mutter aus dem Ersten Weltkrieg: „Als Kind wurde sie mit einem Rucksack voller Stoffreste und Wolle durch den Wald nach Holland geschickt“, erzählt sie. Im Nachbarland tauschte sie die Textilien gegen ein Stückchen Butter. „Meine Mutter hat beide Weltkriege erlebt und mir beigebracht, wie man lebensfähig bleibt in Krisensituationen und wie man sich irgendwie ernähren kann“, sagt sie. Die Gesprächsrunde schließt sich dem an, leider seien die Jungen von heute nicht so interessiert an den alten Geschichten. „Aber das kommt so langsam wieder, gerade in solchen Zeiten wie jetzt, habe ich das Gefühl“, sagt Helga Laun, die mit ihrem Mann Friedrich ebenfalls an der Gesprächsrunde im Enzpavillon beteiligt ist.

Erinnerungen an Bombardierung

Helga Laun ist 1938 geboren und bei Heilbronn aufgewachsen. „Ich erinnere mich sehr stark an die Bombardierungen 1944. Hunger jedoch haben wir nie gelitten“, sagt sie. Ihre Familie hätte ein Haus gehabt, das zwar bombardiert, aber nicht ganz zerstört worden war. Die Fenster wurden durch Pappe ersetzt, der Garten jedoch blieb der Familie und ernährte sie. „Meine Mutter war eine gute Hausfrau und wir haben viel angepflanzt.“ Auch Soleier legte die Mutter ein, die dann von den Kindern aus dem Gefäß geholt werden mussten, eine glitschige Angelegenheit, sagt Laun und lacht. Ihr Onkel war nach Amerika ausgewandert, wodurch sie das Glück hatten, immer wieder sogenannte Care-Pakete mit allerhand Leckereien zu bekommen. An Schokolade und getrocknetes Ei kann sich die Seniorin besonders gut erinnert. Auch die übrigen am Gespräch beteiligten Rentner haben die Care-Pakete noch vor Augen. Ebenso die amerikanischen Besatzer, die den Kindern Schokolade und Kaugummi schenkten.

Schulunterricht habe man schon gehabt, jedoch nicht regelmäßig. „Wir wurden von der Schule aus auch eingeteilt zum Kartoffelkäfer und Bucheckern sammeln sowie zum Ährenlesen“, sagt Helga Laun.

Auch ein Äquivalent zu den in der Corona-Zeit „systemrelevanten Jobs“ hat es gegeben, einen davon übte ihr Vater aus. „Er war UK-gestellt, also unabkömmlich, und musste daher keinen Wehrdienst leisten“, sagt Laun.

Friedrich, genannt Fritz, Laun ist 1935 in Stuttgart-Botnang geboren. Mit sieben Jahren ist er aus Stuttgart evakuiert worden. „Das war die schlimmste Nachricht, als ich erfuhr, dass unser Haus, das komplett aus Holz war, abgebrannt ist. Meine Eltern waren im Keller“, erinnert sich Laun. Damals sei es jedoch Pflicht gewesen, immer einen Eimer Wasser im Keller zu haben sowie Decken. Mit den nassen Decken über dem Kopf konnten die Eltern aus dem brennenden Gebäude fliehen und überleben. Später seien viele Stuttgarter aufs Land gezogen, da die Hauptstadt ausgebombt war, sagt Laun.

Haus neu errichtet

Er und seine Familie seien in Korntal untergekommen, tatsächlich hätten sie aber auf den Ruinen ihres alten Hauses ein neues errichtet, das noch heute in Familienbesitz ist. Auch bei ihm war das Essen knapp. „Die Bauern wussten deshalb auch, dass sie alles von uns Städtern beim Hamstern verlangen konnten“, bestätigen die Teilnehmer der Gesprächsrunde. Theresa Lessnig-Wagner erinnert sich, dass ihre Mutter zum Flicken von Kleidung zu den Landbewohnern gegangen sei und nach stundenlanger Arbeit mit einem Brot oder einem Stückchen Speck nach Hause gekommen war.

Zum Thema Corona-Krise sind sich die Senioren einig: Die Maßnahmen, wie die Maske, seien halt lästig, aber im Vergleich sei das kaum der Rede wert. „Es hat in der Corona-Krise zu keinem Zeitpunkt einen Notstand gegeben, trotzdem horten die Leute“, sagt Wagner. Auch die übrigen pflichten ihm bei, dass Hamstern absolut nicht notwendig sei. „Es gibt alles im Überfluss, man kann die Massen kaum verarbeiten“, sagt Helga Laun.

 
 
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