Skandal im Kunstturnen „Ich sehe drei Stellschrauben“

Von Claudia Mocek
„Systematischen körperlichen und mentalen Missbrauch“ hatte unter anderem die frühere Spitzenturnerin Tabea Alt, hier beim Finale der Deutschen Turnliga 2017, öffentlich gemacht. Foto: Pressefoto Baumann//Hansjürgen Britsch/Imago Britsch

Eine Expertenkommission untersucht die Missbrauchsfälle im Kunstturnen. Die BZ hat mit dem Sprecher Klaus Pflieger aus Sersheim über deren Arbeit und mögliche Ergebnisse gesprochen.

Ende des Jahres hatten ehemalige Spitzenturnerinnen wie Tabea Alt und Janine Berger „systematischen körperlichen und mentalen Missbrauch“ beklagt und über ein System berichtet, in dem es einen gnadenlosen Drill gegeben habe – mit Demütigungen, Zurückweisungen und unbarmherzigen Trainingsmethoden. Die Folgen für die Betroffenen seien gravierend gewesen. Vor wenigen Tagen hat nun eine Expertenkommission im Auftrag des Kultusministeriums damit begonnen, Missbrauchsvorwürfe im Kunstturnen in Stuttgart und Mannheim zu bearbeiten. Der frühere Staatsanwalt und RAF-Experte Klaus Pflieger aus Sersheim hat die Leitung übernommen. Die BZ hat mit ihm über die Vorgehensweise und mögliche Ergebnisse gesprochen.

Sie sind als Leiter der Expertenkommission eingesetzt. Haben Sie einen Bezug zum Sport?

Klaus Pflieger: Ich bin sportverrückt. Ich habe früher selbst Fußball gespielt und Leichtathletik betrieben und hätte fast Sport studiert.

Wie sind Sie zur Expertenkommission gekommen?

Der Präsident des baden-württembergischen Landesverbandes und Sersheimer Bürgermeister Jürgen Scholz fand, dass man die Weichen für die Zukunft neu stellen muss. Da wir uns kennen, hat er da an mich gedacht. Uns geht es nicht darum, die Schuldigen in der Vergangenheit zu suchen, wie die Staatsanwaltschaft es tut. Wir wollen nach vorne schauen und zu klären versuchen, was gefehlt hat und was man strukturell ändern muss, damit es in der Zukunft nicht mehr zu vergleichbaren Vorwürfen und Vorfällen kommt.

Sie kennen Herr Scholz auch persönlich. Hat das nicht ein Geschmäckle?

Uns verbindet aus gemeinsamer Gemeinderatszeit eine Freundschaft. Wer mich aber kennt, der weiß, dass ich dadurch nicht befangen bin. Die Objektivität ist für mich als ehemaligen Staatsanwalt etwas Heiliges.

Wie werden Sie nun vorgehen?

Die bisherigen Strukturen haben nicht verhindert, dass Sportlerinnen sich körperlich und seelisch missbraucht gefühlt haben. Die Expertenkommission hat jetzt in einem ersten Treffen vier Gruppen herausgefiltert, mit denen wir Gespräche führen wollen: Das sind natürlich aktive wie passive Sportlerinnen und Sportler. Dazu zählen selbstverständlich auch deren Eltern. Dann wollen wir auch Trainerinnen und Trainer hören. Nicht im Sinne einer Vernehmung, wie es die Staatsanwaltschaft tut, sondern als eine Einladung zum Gespräch. Und wir wollen natürlich auch Funktionäre hören.

Um wie viele Menschen handelt es sich insgesamt?

So wenig wie möglich und so viel wie nötig. Wir wollen dabei keine schriftliche Massenbefragung, sondern den persönlichen Austausch im direkten Gespräch.

Kommen Sie der Staatsanwaltschaft nicht ins Gehege?

Die Staatsanwaltschaft hat uns gebeten, auf die angedachten Gespräche zu verzichten, um ihre Ermittlungen nicht zu behindern. Ich kann das verstehen. Aber wir können auf solche Gespräche nicht verzichten. Diese haben auch eine ganz andere Zielrichtung als die Vernehmungen der Staatsanwaltschaft. Uns geht es um die Frage: Was kann man künftig besser machen?

Erwarten Sie Gegenwind von Sportlern, Funktionären oder Verbänden?

Davon muss man ausgehen. Aber das ist vergleichbar mit dem, was ich in den Strafverfahren erlebt habe, wenn man von Seiten der Verteidigung mit Angriffen konfrontiert worden ist. Für mich ist das nichts Neues.

Wie lassen sich Strukturen des Missbrauchs denn konkret verhindern?

Das ist die große ethische Fragestellung für die Arbeitsgruppe: wie gelingt es dem Sport, einerseits möglichst erfolgreiche Leistungen zu produzieren und andererseits auf die psychischen und körperlichen Belange vor allem von ganz jungen Sportlern Rücksicht zu nehmen? Vielleicht muss man von der Förderung loskommen, die sich vorrangig an Medaillen orientiert. Möglicherweise bedarf es einer dauerhaften Kommission, die darauf achtet, wo die Grenzen der Ethik verlaufen.

Oder eine Art Beschwerdestelle?

So etwas gibt es teilweise schon. Ich persönlich sehe drei Stellschrauben: Das ist das bereits genannte Ethikthema. Der zweite Punkt betrifft die soziale Kompetenz in der Ausbildung und Beförderung von Trainern und Funktionären. Als Staatsanwalt habe ich gelernt, wie wichtig die berühmten „soft skills“ sind; ich habe damals eingeführt, dass diese sozialen Fähigkeiten bei dienstlichen Beurteilungen zu 50 Prozent berücksichtigt werden, was die Betriebsatmosphäre deutlich verbessert hat. Die dritte Stellschraube betrifft die sogenannte Compliance, das heißt eine Kontrollinstanz, die darauf achtet, dass keine Straftaten begangen und vereinbarte Regeln eingehalten werden. Für diese drei Bereiche sitzen in der Kommission ausgewiesene Expertinnen und Experten.

Wie sieht Ihr Zeitplan aus?

Der gesamte Prozess wird sicher einige Zeit dauern. Am Ende unserer Arbeit werden wohl Empfehlungen stehen. Es wird dann Aufgabe der Politik und der Medien sein, darauf zu achten, dass diese dann auch umgesetzt und eingehalten werden.

Um Missbrauch zu verhindern braucht es Regelungen, der gesunde Menschenverstand reicht anscheinend nicht mehr aus?

Wir brauchen heute ersichtlich gewisse Instrumente, um ethische Regeln besser einzuhalten. Dazu gehört in erster Linie eine bessere Selbstkritik und das Einfordern von Kritik. Keiner von uns neigt dazu, sich selbst kritisch zu sehen. Deshalb sollte man sich im privaten wie im beruflichen Bereich nicht mit „Ja-Sagern“ umgeben, die einem permanent lobend auf die Schulter klopfen. Man sollte vielmehr Kritik produzieren, um besser zu werden. Dazu braucht man Personen, die einem in Art eines „Hofnarren“ mit ehrlicher und ernsthafter Kritik den Spiegel vorhalten und so zeigen, wo man auf dem falschen Weg ist. Entscheidend dabei ist, dass solche Personen „Narrenfreiheit“ haben, also keine Nachteile erleiden dürfen, wenn sie Kritik äußern.

Haben Sie schon in anderen Fällen als Experte fungiert?

Ja, dabei ging es um schreckliche Missbrauchsfälle an einem Jungen durch den Lebenspartner der Mutter. Dieser war einschlägig vorbestraft. Er durfte sich keinen Kinderspielplätzen nähern und auch nicht mit Kindern zusammenleben. Allerdings wusste das nur die Justiz und die Polizei, nicht aber das Jugendamt.

Das Jugendamt hingegen wusste, dass der Mann in das Haus eingezogen war. Die eine staatliche Seite wusste also nicht, was die andere tut. Deshalb hat die Landesregierung eine Kommission eingerichtet, um zu verhindern, dass solche Fälle noch einmal passieren. Nach einer über einjährigen Tätigkeit wurde vor allem festgelegt, dass die Behörden regelmäßig miteinander reden und sich austauschen müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 
 
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