Sozialreportage Eine Chance hat Nico noch

Von Anna Kimmich
Anna Kimmich und ihr Teamleiter Patrick Rosner arbeiten bei „Scout“, einer teilgeschlossenen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Foto: Sven Creutzmann/Mambo Photo

Anna Kimmich studiert Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg (EH). Sie berichtet im Rahmen eines Reportagen-Projekts in Kooperation mit der EH aus ihrem Praxissemester bei „Scout am Löwentor“. Kein leichter Einstieg ins Berufsleben als Sozialarbeiterin.

Schon vom ersten Tag an merkte ich, dass Nico nicht gut auf mich zu sprechen war. Aber diesen Ausraster des 15-Jährigen hab ich echt nicht kommen sehen. „Du Fehlgeburt“, schreit er und wirft eine Flasche Glasreiniger nach mir. Er will übers Wochenende nach Hause zu seiner Mutter und deshalb mit seinem Putzdienst früher anfangen. Um 12.37 Uhr hat er mich nach dem Besen gefragt. Im Wochenplan ist jedoch festgelegt, dass der erst um Punkt 13 Uhr ausgegeben wird. Also sagte ich: „Du musst warten.“ Da tickte er aus.

Ich laufe das Treppenhaus hinunter und hole meinen Kollegen Ruben. Als wir wieder oben sind, redet Ruben mit ihm, dann sprechen wir zu dritt über den Vorfall. Alles wegen 23 Minuten. Das mag pingelig erscheinen, aber so ist die Struktur, minutengenau getaktet von sieben Uhr früh bis zur Nachtruhe um Viertel nach zehn. Das tut Jungs wie ihm gut, gibt ihnen Halt.

Alles, was sie tun und lassen, hat Konsequenzen. Ist er pünktlich im Zimmer, gibt es drei Punkte, kommt er fünf Minuten zu spät: zwei Punkte, zehn Minuten später nur einen und alles danach wird mit null Punkten bewertet. Es gibt auch die Kategorie „Verhalten gegenüber anderen“. Beschimpft er mich als „dumm“, zieh ich ihm einen Punkt ab, für „dumme Nutte“ gibt es zwei Punkte Abzug. Nun wird das Wochenende zuhause abgesagt, stattdessen steht er unter „Schutzstufe“, das bedeutet: zwei Tage kein Handy, kein Fernsehen, kein Ausgang, Telefonieren nur bei uns im Büro und mit Lautsprecher.

„Scout Am Löwentor“

„Scout Am Löwentor“ ist eine teilgeschlossene Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart für zwölf Jungen zwischen zwölf und 17 Jahren. Sie leben in Wohngruppen, jeder im eigenen Zimmer – und sind bisher durch alle Raster gefallen. Sie leben mit Wut auf die Welt und auf sich selbst. Niemand hielt es mit ihnen aus, sie hielten es mit niemandem aus. „Scout“ bietet seit 2005 für Jungen wie sie intensivpädagogische Hilfe an. Eine Schule mit drei Lehrkräften für drei Klassen gehört dazu, eine Außenstelle der Schule für Erziehungshilfe aus Heidenheim. Die Jungen können hier den Hauptschulabschluss machen. Die beiden Häuserblöcke und das Gelände darum sind eingezäunt. Manchmal klettert einer darüber. Und kommt dann doch wieder zurück. Wohin soll er auch?

Unten liegen Schulräume, Küche und Speisesaal. Oben die Zimmer der Jungs, Badezimmer und Büros. Alles ziemlich karg, vor den Fenstern Gitter. Sie sollen sich hier nicht zuhause fühlen. Gelegentlich geht etwas zu Bruch, deshalb steht nicht viel Zerbrechliches herum, nichts hängt an der Wand.

Ich studiere Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Seit sechs Monaten bin ich bei „Scout“ im Praxissemester und immer wieder werde ich als „Schlampe“, „Fehlgeburt“ und „behinderte Praktikantin“ beschimpft von Nico. Mein Teamleiter, Sozialarbeiter Patrick Rosner, hat mir erklärt, dass ich differenzieren müsse: Die Jungs haben nicht ein Problem mit mir, wenn sie ausrasten, sondern mit ihrer Situation. Sie würden mich prüfen: Wie reagiert die Neue? Wie weit kann ich gehen?

Ich stellte mich darauf ein, das war schon hart. Ich bin sensibel, heule ja schon, wenn ich „König der Löwen“ im Kino sehe. Trotzdem konnte ich das verkraften. Ich bin so anders aufgewachsen als die Jungs hier. Auf einem Bauernhof im Schwarzwald mit Schafen, Schweinen, Puten, Gänsen, Enten, Katzen, Hasen, Meerschweinchen und Wachteln. Ich lebte wie in Bullerbü. Meine Eltern mögen sich, mein Vater ist Pastor, meine Mutter besucht ehrenamtlich Menschen im Pflegeheim und meine Geschwister sind Sozialarbeiter, Krankenschwester und Lehrerin. Warum habe ich mir ausgerechnet „Scout“ ausgesucht? Vielleicht grade deswegen. Ich hatte es gut. Andere hatten nicht so viel Glück.

Eine letzte Chance, es zu schaffen

„Scout“ ist eine der letzten pädagogischen Maßnahmen, die es im Rahmen der Jugendhilfe überhaupt gibt. Wenn weder ambulante Therapie, noch Familienhilfe, Tageswohngruppe, oder ein Schulwechsel greift, bliebe nur noch die geschlossene Psychiatrie oder der Jugendstrafvollzug. Denn sie haben alle etwas ausgefressen. Ladendiebstähle, Schlägereien, Drogenmissbrauch, Dealen. Warum tun sie das? Nico zum Beispiel. Seine Akte liest sich wie ein Weltuntergang, man möchte Nico nur noch in den Arm nehmen. Was man aber nicht darf.

„Wir sind kein Familienersatz“, sagt Patrick Rosner: „Ich bin Trainer, nicht Bruder oder Vater.“ Manchmal ist das schade, meint er. „Ich hatte einen Jungen zwei Jahre durch alle Höhen und Tiefen begleitet, an seinem letzten Tag spürte ich, er möchte jetzt, dass wir uns zum Abschied drücken. Aber ich tat es nicht. Sonst wäre es ihm noch schwerer gefallen, zu gehen.“ Die körperliche Grenze ist klar definiert. „Hört sich hart an, aber Kuschelkurs ist nicht gut. Man weiß nicht, wie die Jungs darauf reagieren.“

Auf jeden Jungen kommen drei Betreuende. Kommt einem viel vor. Aber es geht Tag für Tag rund um die Uhr. Es wird mit dem „Token Economy Program“ gearbeitet. Es belohnt positives Verhalten. Je mehr Punkte man hat, desto mehr Privilegien gibt es.

Einblick in Nicos Lebenslauf

Nicos Weltuntergangsakte: Die Eltern trennen sich, als er drei ist. Der Vater zieht aus, die Mutter hat das Erziehungsrecht und zieht mit den beiden Söhnen in eine kleinere Wohnung. Als Nico in der ersten Klasse ist, hat sie einen neuen Partner und zieht von Heilbronn nach Ulm, wieder eine neue Schule. Nico ist schon in der Grundschule verhaltensauffällig und muss in die Sonderschule wechseln. Mit zehn Jahren der nächste Umzug, der Stiefvater wechselt den Job – und Nico zum dritten Mal die Schule. Mit zwölf schlägt er einen Mitschüler krankenhausreif.

„Hopping“ durch die Jugendhilfe beginnt

Nico fliegt aus der Schule, kommt in eine psychiatrische Klinik, nach sechs Wochen „zur Probe“ zum Vater. Der hält sich an keine Auflagen, schlägt seinen Sohn. Nach drei Monaten schreitet das Jugendamt ein. Aus der ersten stationären Wohngruppe fliegt er, aus der nächsten haut er ab. In der Akte steht etwas von Alkohol- und Drogenmissbrauch, kurz wohnt er bei der Mutter, zwei Monate in einer Pflegefamilie und schließlich ist es wieder die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er wird medikamentös eingestellt, weil er scheinbar die Konzentrationsstörung ADHS hat. Es ist noch nicht die „Betonspritze“, von denen die Jungs erzählen, die in der Jugendpsychiatrie waren. Wenn sie die kriegten, waren sie weg: starr wie Beton.

Im Oktober 2022 kommt Nico zu „Scout“. „Da saß ein verschüchtertes Kind vor mir“, sagt Rosner. Das sei häufig so. Sie halten sich zurück, müssen sich orientieren, Rangordnung und Regeln erkennen. „Wir verfolgen hier einen systemischen Ansatz“, sagt er. Die Eltern dürfen nicht denken, ihr Sohn werde zwei Jahre bei „Scout“ geparkt und danach hat er gelernt, wie es geht. Nein. „Wenn er als Rädchen wieder zurückkommt und an derselben Stelle eingesetzt wird, hakt das System ja immer noch. Deshalb müssen auch die Eltern mit uns arbeiten.“ Das funktioniert nicht immer.

Wenn die Mutter säuft und der Vater prügelt, sind sie mitunter schwer zu erreichen. Wobei es nicht nur prekäre Verhältnisse sind. Wenn Kinder überbehütet werden, kann es ihnen so eng werden, dass sie ausbrechen müssen.

Neulich habe ich den Film „Systemsprenger“ gesehen. Die neunjährige Benni landet wegen ihrer Wutanfälle immer wieder in Pflegefamilien. Sie will zu ihrer Mutter zurück, doch die fürchtet sich, dass sie die jüngeren Geschwister verletzt. Sind unsere Jugendlichen alle Systemsprenger? „Ich halte von dem Begriff nicht viel“, sagt Rosner. „Denn sie sprengen das System nicht. Das System läuft weiter, nur sie fallen heraus“.

Ich weiß, ich kann nicht die Welt retten. Aber von den Jugendlichen habe ich mindestens so viel gelernt wie von den Fachkräften. Habe gelernt, nicht zu nah dran zu sein und doch emotional erreichbar zu bleiben. Eine gute Beziehung aufzubauen, etwas gemeinsam zu erleben, damit pädagogische Arbeit möglich ist.

Weil ich die Akte kenne, verstehe ich, dass Nico nach all den Umzügen und Schulwechseln keine Lust auf Veränderungen und neue Leute hat. Inzwischen hat er sich an mich gewöhnt. Ich begleite ihn zum Skatepark, spiele mit ihm Minecraft am Computer. Letzte Woche saßen wir an der Spielkonsole und er sagte zu mir: „Frau Kimmich, wir sind ja ein richtiges Dream-Team“. Für so einen Moment arbeite ich hier.  

Reportagen-Projekt von BZ und EH

In unregelmäßigen Abständen werden in der BZ Reportagen von Studentinnen und Studenten der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg erscheinen, in denen sie in Sozialreportagen von ihrem Praxissemester berichten. Die EH ist eine staatlich anerkannte Hochschule für Menschen jeglicher Orientierung, Konfession und Glaubensrichtung. Es gibt Bachelor- und Master-Studiengänge in den Bereichen Soziales, Diakonie, Pädagogik, Pflege und Religion.

 
 
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