Stuttgart Ein 16-jähriger Immigrant wider Willen

Von Patricia Fleischmann
Von links: Klara Pfeiffer, Marius Hubel und Lion Leuker sind Darsteller im Stück „Der Verschollene (Amerika)“, das derzeit im Alten Schauspielhaus in Stuttgart zu sehen ist. Foto: /obias Metz

Das Alte Schauspielhaus Stuttgart zeigt derzeit das Stück „Der Verschollene (Amerika)“ von Franz Kafka. Dabei geht es um einen Jugendlichen, der in Amerika erfolglos sein Glück sucht. Den Künstlern gelingt dabei eine stimmige Inszenierung mit tollen Dialogen, obwohl die Vorlage von den Gedanken des Ich-Erzählers lebt.

Nicht immer darf Kafka so bunt sein wie dieser „Verschollene (Amerika)“, nun zu sehen als Bühnenadaption des unvollendeten Romans von Franz Kafka im Alten Schauspielhaus Stuttgart: Ausstaffiert mit farbenfrohen Tüchern und stetem Bühnenbildwechsel, hemmungslosem Spiel, Gesang, Kampf und Tanz. Umso greller der Kontrast zum „Kafkaesken“, zum albtraumhaft Gefangenen, zum farb- und freudlosen Leben des Protagonisten Karl, ein ewig Verstoßener, dieser „Verschollene“.

Mensch gegen Maschine

Es wäre fast reine Freude, diesem bunten Treiben zuzuschauen, die Bullaugen, herabgelassenen Zwischenwände, riesigen Freitreppen, die aufwendigen Kostüme, Choreografien und Klänge einfach nur zu genießen. Doch was da verhandelt wird, ist nichts weniger als der aussichtslose Kampf von Mensch gegen Machtmaschine, von empfindlicher Seele gegen eiskaltes System. Schauspielbühnenneuling Leon Leukers Karl sucht nach Gerechtigkeit, nach einer bescheidenen Existenz als braver Sohn und Neffe, als Liftjunge, als unfreiwillig nach Amerika ausgewanderter 16-jähriger.

Doch die ist nicht zu finden, auch nicht im Land der Freiheit. Stattdessen: übereifrige Businessmenschen, denen ihr Zeitplan wichtiger ist, als das Schicksal eines gestrandeten Jungen. Zackig muss alles geschehen, da fließen die Bewegungen von Körperertüchtigung und emsiger Arbeit ineinander über, adäquat umgesetzt von nur sechs Nebendarstellern in über 30 Rollen unter der Regie von Catja Baumann.

Arbeitsstätte für Gescheiterte

Wo auch immer für kurze Zeit Harmonie aufzukommen scheint, wird die auch gleich wieder zerstört, und sei es durch den platten Hintern einer verzogenen Tochter, die Karls Klavierspiel beendet, indem sie sich diskordant mitten auf die Tasten setzt (Klara Pfeiffer, außerdem hervorragend als bewegliche Freiheitsstatue). Tramps, die sich als Kumpels ausgeben (ein klasse Duo: Victor Tahal und Tobias Dürr), beklauen Karl. Neidische Kollegen sorgen dafür, dass er seine Arbeitsstelle verliert.

„Der Verschollene“ nach flehentlichen rufen Karls „Bringt mich nach Hause!“ endet im Theater von Oklahoma, einem abgefahrenen-surrealen Auffanglager, einer Art therapeutischer Arbeitsstätte für Gescheiterte. Auch hier zunächst eine herrlich groteske Odyssee durch diverse Amtsstuben. Karl begreift schnell, dass er singend zu antworten hat.

Schon eine Leistung, einen Roman, der von den Gedanken des Ich-Erzählers lebt, in Dialogen auf die Bühne zu bringen. Dem Team vom Alten Schauspielhaus ist dies gelungen. Mag sein, es hängt mit der letzten Szene zusammen, dass Kafka selbst diesen Roman als für ihn ungewohnt „heiter“ beschreibt. Das klingt ziemlich ironisch, scheitert das Individuum hier doch sowohl am Schicksal (vergewaltigt von der Köchin des Hauses und deshalb verstoßen) als auch am System selbst. Interessant wäre, zu wissen, welche Romane Kafka heute schreiben würde, angesichts verwirrender Onlineformulare und sich teils widersprechender Vorschriften und Gesetze in einer immer schnelllebigeren Zeit.  Patricia Fleischmann

 
 
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