Stuttgart Theaterhaus Auf der anderen Seite des Tisches

Von Patricia Fleischmann
Stefanie Klimkait als Tessa Ensler in der Produktion „Prima Facie – Dem Anschein nach“. Foto:  

Ein intensives MeToo-Drama „Prima Facie“ wird zur Zeit im Theaterhaus in Stuttgart gezeigt. 

Kaum eine(r) redet darüber. Am liebsten mag man noch nicht einmal darüber nachdenken. Und doch ist sexualisierte Gewalt allgegenwärtig. Jede dritte Frau in Deutschland hat sie erlebt. Die britisch-australische Autorin Suzie Miller hat das Thema in einem Monodrama verdichtet. Kongenial, denn in „Prima Facie“ erlebt Anwältin Tess einen krassen Perspektivwechsel von der Verteidigerin der Täter hin zum Opfer. Nun zu sehen im Theaterhaus, als Produktion der Schauspielbühnen Stuttgart.

Die Zeugin zuerst einlullen, sie in Sicherheit wiegen und dann: „Peng! Peng, Peng, Peng!“ Abschießen und zerlegen. – Diese Tess hat ihre Hausaufgaben gemacht. Sich hochgearbeitet in die Riege der angesehenen Strafverteidiger. Nicht selten setzt ihre Kanzlei sie, sicher nur „zufällig“ eine Frau, ein, wenn es darum geht, einen der Vergewaltigung angeklagten Mann rauszuhauen. Sie macht das gut. Und sie macht sich keine Gedanken. Bis sie selbst vergewaltigt wird.

Kühl, gerissen und überlegen

Stefanie Klimkait als Tess verkörpert diesen Wandel (Regie Axel Preuß) mit jeder Faser. Mal rhythmisch und intensiv bis jenseits der Schmerzgrenze. Dann wieder locker über scheinbare Nebensächlichkeiten parlierend, zwischen den hoch aufragenden Aktenschrankwänden stolzierend. Kühl, gerissen und überlegen als Anwältin. Auf der Pirsch, immer nah dran an der einen Lücke, der einen Ungereimtheit in der Geschichte, um die Fasson der Klägerin unglaubwürdig zu machen. Das ist ihr Job, das sind die Regeln des Gesetzes. Um Wahrheit geht es nicht; die möchte ein Anwalt nicht einmal hören. Vor Gericht immer in Robe.

Klimkait voller Selbstbewusstsein. Ein ehemaliges Arbeiterkind gibt sie hier, auf dem Sprung in die Upper Class. Eine liebende Tochter. Die nicht vergessen hat, wo sie herkommt. Dann die andere Tess: Sie jammert, schimpft und kotzt später. Schlimm, die Tat selbst, die Erniedrigung direkt danach. Noch schlimmer: als der Verstand einsetzt, später. Als sie registriert, wie gering ihre Chancen vor Gericht sind. Vorher hatte sie schließlich bereits Sex mit Julian, freiwillig. Geduscht hatte sie aus Reflex. Sehr wenige Beweismittel für die forensisch-medizinische Untersuchung am Tag danach. Wer glaubt schon einer Zeugin, die rotzbesoffen war.

110 Minuten allein auf der Bühne

Und dann steht sie da, im Gerichtssaal. Auf der anderen Seite des Tisches. Ohne ihre „Rüstung“, die Robe. – Eine Glanzleistung von Stefanie Klimkait. An die 90 Seiten Text, allein auf der Bühne. Volle Konzentration, alle Augen auf ihr. Bühnenbild, Beleuchtung und Toneinspielungen geraten in den Hintergrund, 110 Minuten verfliegen im Nu.

„Weibliche Erfahrung passt in kein von Männern errichtetes Rechtssystem. Doch nicht das Gesetz wird hinterfragt, sondern die Opfer.“ Nur jede zehnte Vergewaltigung wird auch angezeigt. Nicht eingerechnet die Dunkelziffer. Taten, von denen aus Scham und Angst vor der Strafe nur jeweils zwei Menschen wissen. Doch nein heißt nein. Das gilt in lockeren Affären ebenso wie in der Ehe.

„Prima Facie – dem Anschein nach“ wurde 2019 in Australien uraufgeführt, läuft derzeit an neun Bühnen allein in Deutschland. Suzie Miller arbeitete vor ihrer Autorinnenkarriere selbst als Strafverteidigerin. Sie weiß, worüber sie schreibt. Kennt den juristischen Apparat. Bringt mit der Vergewaltigung ein aktuelles juristisches wie gesellschaftliches Thema auf die Bühne. Ein Plädoyer auf der Bühne. Die MeToo-Debatte scheint mittlerweile leiser zu werden. Sexualisierte Gewalt hingegen ist zeitlos.  

 
 
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