Reine Taktik verleitet den skrupellosen Gottlieb Biedermann dazu, ausgerechnet die Brandstifter bei sich zu bewirten, vor denen überall gewarnt wird. Max Frischs zeitloser Bühnenklassiker „Biedermann und die Brandstifter“ um einen Haarwasserfabrikanten und wohlsituierten Mitläufer, der sich und andere sehenden Auges ins Unheil stürzt, ist seit der Uraufführung 1958 präsent auf allen Bühnen.
Theater Stuttgart Weite Parabel, enge Auslegung
Aktueller denn je: Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ wird derzeit im Alten Schauspielhaus in Stuttgart gezeigt.
Aktueller denn je
Und heute, angesichts vieler Bedrohungen im Land wie weltweit, aktueller denn je. Nun ist er zu sehen in einer Produktion des Alten Schauspielhauses in Stuttgart in Kooperation mit dem Euro-Studio Landgraf.
Hat der Biedermann sie noch alle? Einem offensichtlichen Brandstifter freiwillig Streichhölzer geben? Wer den „Biedermann“ ohne Metaebene liest oder schaut, hat schon verloren. Wer ihn nur auf eine von vielen Bedrohungen reduziert, auch. Nicht umsonst hat Frisch das einst fürs deutsche Publikum angefügte, auf Nazi-Deutschland bezogene Nachspiel wieder entfernt. Das „Stück ohne Lehre“ soll eben gerade verstören, zum Nachdenken anregen. Parallelen zur aktuellen Lage und zur Geschichte ssoll es erkennen lassen, die doch nie ganz schlüssig aufgehen, sobald man sie konkretisieren möchte. Eine Parabel mit deutlicher Moral hat der Schweizer Dramatiker und Architekt Frisch geschaffen: Wer den Feind bei sich aufnimmt, um seine Haut zu retten, geht trotzdem unter – und reißt alle andern mit.
Wobei: Peter Bause gibt die künstliche Naivität des Gottlieb Biedermann, das verblendete Wissen bis zum eigenen Untergang (und darüber hinaus) sehr glaubhaft. Windet sich als Herr im Hause, versucht, sich gutzustellen mit den Brandstiftern (Oliver Burkia und Jan Henning Kraus). Präsentiert sich einfach und doch großzügig.
Einen auf „schlicht“ machen
Biedermann lässt das gute Geschirr wegräumen, um einen auf „schlicht“ zu machen. Und wieder herbringen, als die brandgefährlichen Gäste es entdecken: Kandelaber weg, Kandelaber wieder her. Kichert fahrig, wenn seine Scheinheiligkeit auffliegt, mimt kurz darauf, wieder Herr der Lage zu sein. Jovial bis zum Untergang. Und gern doppeldeutig: „In meinen Kreisen wird selten einer geschnappt.“ Hellena Büttners Frau Biedermann verkörpert den Spagat zwischen Ängstlichkeit und Gattengehorsam aufs Verzweifetste. Zehn Jahre ist es her, dass das Schauspielerpaar Bause und Büttner zusammen am Alten Schauspielhaus zu sehen waren.
Gerade meint man in der (etwas langatmigen) ersten Hälfte der Aufführung, in dieser überraschenden Authentizität des Absurden den Grund für die 1950er-Jahre-Ausstattung (Oliver Kostecka) eines doch zeitlosen Klassikers gefunden zu haben, da wechselt die Regie die Marschrichtung: Nach der Pause konkretisiert Regisseur Harald Demmer die offene Parabel auf eine einzige Bedrohung: die durch die AfD. Gleich mehrere Björn-Höcke-Zitate um dessen Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ folgen hintereinander. Naheliegend, zugegeben, doch so allein gestellt engt das die Sichtweise des Stückes ein, lässt andere aktuelle Bedrohungen wie Kriegsschauplätze, Klimakrise und Ausbeutung außen vor. Das Angebot für weitere Parallelen, Vorsicht: Ironie, wäre derzeit ziemlich groß. In Frischs Gottlieb Biedermann könnten sich heute sogar russische Oligarchen wiedererkennen.
Stattdessen in der Stuttgarter Inszenierung: Betroffenheitsnabelschau unter Gleichgesinnten. Und sehr viel erhobener Zeigefinger, kaum Ideen, Witz für mehr Fallhöhe. Aber immerhin: das richtige Stück zur richtigen Zeit. Weh‘ uns. Patricia Fleischmann