Ukrainischer Fotograf im Besigheimer Wartesaal „Und plötzlich war Krieg“

Von Gabriele Szczegulski
Stelian Harhala mit Fotos, die zeigen, wie Menschen in der zerstörten Stadt Mariupol auf offenem Feuer draußen kochten und wie ganz schnell Alten und Pflegebedürftigen geholfen wurde. Foto: Werner Kuhnle

Stelian Harhala floh mit seiner Familie zwei Monate nach Kriegsausbruch aus der vollkommen zerstörten Stadt Mariupol. Im Wartesaal zeigt er Fotos, die er noch in der Ukraine gemacht hat.

Das ist nicht mehr meine Stadt“, sagt Stelian Harhala über seine Heimatstadt Mariupol. Er kann sich nicht vorstellen, noch einmal dorthin zurückzukehren, zu schlimm waren die Eindrücke vom Bombardement, der Zerstörung, von den vielen Toten und verletzten. Er habe sich nie vorstellen können, seine geliebte Stadt Mariupol zu verlassen, sagt er. Als die russische Armee am 28. Februar 2022 Mariupol angriff, die ersten Bomben fielen, „waren wir überrascht und erschrocken“, so Harhala. „Wir dachten, das geht jetzt ein paar Tage so, dann ist alles wieder vorbei, aber plötzlich war Krieg.“

Das Leben im Kriegszustand

Harhala, der als Hausmeister in einem Reha-Sanatorium arbeitete, holte seine Frau und seinen neunjährigen Sohn Borys zur Sicherheit in seine Arbeitstelle. Dort verbarrikadierten er, die Mitarbeiter, die Patienten und Dutzende aus der Stadt Geflüchtete, insgesamt mehr als 300 Personen, sich für mehrere Wochen. Harhala, der als Hobbyfotograf Mitglied des Fotoclubs der Ukraine ist, mehrere nationale Fotopreise erhalten und Ausstellungen gemacht hat, fotografierte mit seinem Handy, wie das Leben im Sanatorium während des russischen Angriffskrieges war. Diese Fotos vom Leben im Kriegszustand, zusammen mit wunderschönen Landschaftsaufnahmen aus dem Donez, aber auch von der Industriestadt Mariupol und dem Asowschen Meer, sind derzeit im Besigheimer Wartesaal zu sehen. „Meine Geschichte“ heißt die Fotoausstellung.

Gekocht werden musste draußen, auf offenem Feuer, aber nur, wenn es gerade kein Luftangriff gab. Es gab keinen Strom und kein fließendes Wasser. „Wir fingen Regenwasser auf und schmolzen Schnee, kochten und desinfizierten es“, so Harhala.

Als abzusehen war, dass die russische Armee Mariupol erobern wird, wurde das Sanatorium geräumt, die meisten flohen aus der Stadt. Harhalas Familie verschlug es in das nahe gelegene Melitopol. Dort trafen sie auf Ihor Kryvenko, einen Schwimm- und Boxtrainer, der in der Stadt vor dem Krieg eine Hilfsorganisation für Waisenkinder gegründet hatte sowie einen Sportverein für Kinder. Nun half er Flüchtlingen, hilfsbedürftigen Einwohnern und Menschen mit Behinderungen in seiner Stadt und Verletzten. Wie selbstverständlich half Stelian Harhala bei der Verteilung und Organisation von Lebensmittel- und anderen Spenden, wie Medikamente, mit.

Als klar wurde, dass der Krieg nicht nur ein paar Tage dauern sollte, traf Harhala die Entscheidung, mit seiner kleinen Familie die Ukraine zu verlassen. „Es wurde immer klarer, dass Mariupol verloren war, wir wohl nie mehr dahin zurück kehren konnten“, so Harhala, der aus gesundheitlichen Gründen nicht als Soldat für sein Land kämpfen kann.

Er nahm Kontakte zu einer russischen Friedensorganisation auf, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ukrainische Flüchtlinge zu retten. „Es sind nicht alle Russen für den Krieg. Die Mitglieder dieser Organisation machen Friedensdemos und helfen Ukrainern, dafür werden sie regelmäßig ins Gefängnis geworfen“, so Harhala.

Über Sankt Petersburg, zu Fuß über die estnische Grenze, dann nach Tallin, kamen die Harhalas mit dem Flugzeug in Berlin an. Dort wurden sie ins schwäbische Meßstetten gebracht, danach nach Esslingen. Durch die Vermittlung eines Ukrainers, der schon lange in Bietigheim-Bissingen lebte, konnte Harhala in Bietigheim-Buch eine eigene kleine Dachgeschosswohnung mieten.

Mittlerweile macht er einen Deutsch-Integrationskurs. Denn er will möglichst schnell wieder arbeiten, sein eigenes Leben finanzieren. Sein Sohn, der in der Ukraine ein bekannter kleiner Tanzstar in Standard- und Lateintänzen war, hat auch wieder einen Tanzverein gefunden, geht in die Bietigheimer Buchschule.

Plötzlich kein Zuhause

Als Harhala seiner Deutschlehrerin, der Ottmarsheimerin Katrin Held, seine Foto aus der Ukraine zeigte, knüpfte sie den Kontakt zum Vorsitzenden des Besigheimer Wartesaals, Lothar Jerschl. „Vor allem wollten wir die Landschafts- und Städtemotive aus der Ukraine vor dem Krieg zeigen, wie schön es dort war“, so Jerschl. Aber Harhala bestand darauf, auch zu illustrieren, wie die Ukrainer sich selbst helfen. „Es ist unvorstellbar für uns alle gewesen, dass wir von einem Moment auf den anderen kein Zuhause mehr haben, wir nicht mehr in unsere Städte durften.“

Mariupol ist eine Stadt in der Oblast Donezk in der Ukraine, die vor Beginn des russischen Überfalls von 2022 rund 440 000 Einwohner (Stand 2018) hatte. Die Stadt war historisch eines der wichtigsten Zentren der Griechen in der Ukraine, die bis heute eine wichtige Minderheit in der Stadt sind. Mariupol liegt am Ufer des Asowschen Meeres an der Mündung des Kalmius und war bis zur Belagerung von Mariupol ab dem 24. Februar 2022 eine bedeutende Hafen- sowie Universitätsstadt und Wirtschaftszentrum. Seither hat die Stadt massive Zerstörungen erlitten.

Während der Belagerung der Stadt starben nach ukrainischen Angaben mindestens 20 000 Zivilisten. Ende August 2022 wurde die Zahl der in den Leichenhäusern Mariupols dokumentierten Toten durch den pro-ukrainischen Sender „Mariupol TV“ mit 87 000 angegeben. Darunter seien allein 26 750 Menschen, die von der Staatsanwaltschaft von Nowoasowsk als „in Massengräbern beerdigt“ registriert worden seien. Seit dem 20. Mai 2022 wird Mariupol vollständig von Russland und der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk kontrolliert, deren Teil es werden soll.

 
 
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