Vaihingen/Markgröningen Aufschrei gegen Antisemitismus

Von Walter Christ
Am Montag haben sich rund 150 Menschen versammelt, um an der Aktion gegen Antisemitismus teilzunehmen. Foto: /Oliver Bürkle

Die „Marsch des Lebens“-Aktion von Vaihingen bis Unterriexingen fand am vergangenen Montag statt. Sie dient als Mahnung und Weckruf.

Die Polizei hat laut Bundesinnenministerium 2024 in Deutschland 5177 Straftaten mit antisemitischem Motiv registriert und damit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Judenhass gibt es demnach offensichtlich schon wieder in allen Teilen der Gesellschaft des vermeintlichen „Nie-wieder“-Deutschlands.

Anlass genug für die 2007 von Jobst Bittner in Tübingen ins Leben gerufene internationale „Marsch des Lebens“-Bewegung, auch im geschichtsbelasteten Großraum Vaihingen wieder eine öffentliche Aktion zu starten. Leitspruch: „Wir schweigen nicht!“

Bis zu fünf Stunden langer Marsch

Am Ende insgesamt rund 150 Teilnehmer werden es gewesen sein, die sich am Montag bis zu fünf Stunden lang mit Israel-Fahnen, Transparenten und Geisel-Fotos aufmachten, um von der KZ-Gedenkstätte in Vaihingen aus über Oberriexingen bis hin zur KZ-Gedenkstätte in Unterriexingen zu marschieren, an Schreckliches zu erinnern und aktuell in aller Deutlichkeit wachzurütteln: eine Demonstration, eine Art Aufschrei wider den Zeitgeist.

Dass der Start an der KZ-Gedenkstätte in Vaihingen begann und in Unterriexingen endete, hatte, wie der am Montag mehrfach gelobte Markgröninger Ortshistoriker und Menschenfreund Hans Bader erinnerte, seinen guten Grund. Gab es hier zu Nazizeiten doch jeweils berüchtigte Konzentrationslager beziehungsweise KZ-Außenkommandos, die eng miteinander verbunden waren. Gab es hier doch von Oktober 1944 bis April 1945 zweimal am Tag von Vaihingen nach Unterriexingen einen Transport von Essen für rund 500 KZ-Häftlinge und deren Aufseher, den zwölf Zwangsarbeiter in einem von ihnen gezogenen Wagen zu Fuß machen mussten, um auf dem Rückweg im selben Wagen Leichen zur Beerdigung nach Vaihingen zu bringen.

Am frühen Nachmittag war am Montag zuvor in Vaihingen an einem Stolperstein und auf dem Marktplatz sowie an einer weiteren Zwischenstation in Enzweihingen und in Oberriexingen an die Opfer gedacht worden. Wie Jobst Bittner, Gründer und Präsident der „Marsch des Lebens“-Bewegung in seinem vorgelesenen Statement verlauten ließ, finden in diesem Jahr in 20 Nationen und 120 Städten Märsche des Lebens mit dem Motto statt: „Wir schweigen nicht!“ Die Teilnehmer haben sich versammelt, um zu erinnern, zu versöhnen und um gemeinsam ein Zeichen gegen Antisemitismus und Judenhass zu setzen.

Die Rede ist vom Gedenken an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die im Holocaust entrechtet, verfolgt, verschleppt und ermordet wurden – nur weil sie Juden waren. „Ihr Leben wurde ausgelöscht, weil in Nazideutschland zu viele zugesehen und geschwiegen haben“, schlug der Präsident auch gleich eine Brücke in die Gegenwart und in die Zukunft. Der jüdische Gedenktag Jom haSchoa sei somit mehr als Erinnerung. Er sei Mahnung und Verpflichtung. Und er müsse die Probleme der Gegenwart beim Namen nennen, denn das Gedenken falle zusammen mit einer offenen Wunde: dem grausamen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 samt Geiselnahme, deren Freilassung man fordere.

„Antisemitismus ist Gegenwart“

„Der 7. Oktober war ein Einschnitt. Er zeigt, dass Antisemitismus nicht Geschichte ist. Er ist Gegenwart. Nach dem 7. Oktober erlebten wir einen weiteren Angriff. Weltweit zeigte sich die hässliche Fratze des Judenhasses und Antisemitismus. Und was folgte, war ein weiteres Erschrecken: Nicht nur über die Gewalt, sondern auch über das Schweigen“, so der Präsident. „Das Schweigen in Klassenzimmern, in Universitäten, in zahlreichen Medien und Kirchen. Das Zögern, klare Worte zu finden. Die Relativierungen. Das Wegsehen“. Bittner sieht im Schweigen dazu ein Alarmsignal: „Denn Antisemitismus lebt nicht nur von Parolen. Er lebt auch vom Wegsehen, vom Verharmlosen – und vom Schweigen der Mehrheit.“ Wer heute schweige, wenn Jüdinnen und Juden angefeindet und bedroht werden, mache sich mitschuldig. Sein Appell an alle: Hinschauen. Hinhören. Widersprechen. Aufstehen. Und gemeinsam solidarisch laut zu rufen: „Wir schweigen nicht!“

Und genau das taten bei der vom Bissinger Tebis-Chor mit Liedern begleiteten Schlussfeier auch mehrere Rednerinnen nicht, wobei sie die Juden um Vergebung baten und von einer Schande für die Deutschen sprachen, was sich in ihrem Land schon wieder abspiele. Besonders eindrucksvoll dabei das öffentliche Bekennen von Madeleine Syring, die zusammen mit ihrer Schwester Desirée die Aktion organisiert hatte, einst voller nationalsozialistischen Denken geprägt gewesen zu sein, um nun voll an der Seite Israels zu stehen.

 
 
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