Der Sitzungssaal im Freudentaler Rathaus verwandelte sich für die Dauer eines Fußballspiels in den berühmten Kölner Keller, in dem bei Erst- und Zweitligaspielen Spezialisten vor bis zu 36 Bildschirmen pro Partie alle Szenen in den Stadien genau verfolgen und den Schiedsrichter auf dem Platz unterstützen. Auf Einladung des Freudentaler Vereins „Bürger für Bürger“ gab Pascal Müller, einer der profiliertesten deutschen Video Assistent Referee (VAR) Einblicke in seine Arbeit.
Freudental Freudentaler Pascal Müller entscheidet im Kölner Keller
Der Video-Schiedsrichter Pascal Müller gibt in seinem Wohnort Freudental Einblicke in die Arbeit während eines Bundesligaspiels.
In 48 Spielen im Einsatz
Der 34-jährige Freudentaler ist Wochenende für Wochenende in Köln in der Bundesliga und der Zweiten Liga im Einsatz und war häufig auch bei Länderspielen und internationalen Wettbewerben wie der Nations League, der Champions-League-Qualifikation und der European League quer durch Europa vor den Bildschirmen. Vor dem letzten Spieltag am kommenden Wochenende, an dem er in der Bundesliga erneut im Einsatz sein wird, hat er in der laufenden Saison 48 Spiele der Bundesliga und der Zweiten Liga im Untergeschoss von Fernsehstudios in Köln-Deutz begleitet.
Medial im Blickpunkt stand Müller erst am zurückliegenden Sonntag, als Schiedsrichter Deniz Aytekin in einer TV-Sendung den Funkverkehr zwischen Müller und ihm nach einer strittigen Szene im Strafraum während der Bundesligapartie 1. FC Köln gegen Union Berlin öffentlich machte und kommentierte. Müller hatte den berühmten Kollegen auf ein Handspiel aufmerksam gemacht und ihm den Gang in die Review Area am Spielfeldrand empfohlen. „Von selbst gehen die meisten nicht raus“, sagte Müller.
Mit Videomaterial und dem Ablauf der Funkkontakte in die Stadien veranschaulichte Müller im Rathaus, wie etwa die Entscheidungsfindung in der Frage „Abseits oder nicht“ funktioniert. „Es gibt für den VAR vier Fälle, die geprüft werden: jedes Tor, jeder Elfmeter, jede Rote Karte und ob der richtige Spieler bestraft wird. Aber von uns werden alle Strafraumszenen gecheckt. Da geht es auch viel um räumliche Vorstellungskraft“, so der Freudentaler. In den Bundesligastadien sind 36 Kameras rund um das Spielfeld installiert. In der Zweiten Liga sind es aus Kostengründen nur zwölf. „Deswegen gibt es dort weniger Eingriffe“, sagte Müller.
Dem VAR zur Seite sitzen ein Assistent und zwei Operator, die für die Auswahl der Bilder zuständig sind. „Da ist es wichtig, dass man sich kennt und der Techniker weiß, welche Bilder ich haben will“, so Müller. Entscheiden muss der VAR in Sekundenschnelle. „Sky und die Sportschau haben viel Zeit, um beste Bilder für ihre Zusammenfassungen zu suchen und zu finden. Wir haben 20, 30 Sekunden Zeit“, so Müller und weiter: „Ein Regisseur für die Fernsehbilder hat acht Operator, wir haben zwei.“
Immer einen Schritt weiter sein
Gut findet er, dass die vom Schiedsrichter am Spielfeldrand gecheckten Szenen nicht gleichzeitig auf der Stadionleinwand übertragen werden. „Er müsste dann vor 80.000 Zuschauern in Dortmund, die alle die Bilder sehen, eine Entscheidung in der Review Arena treffen.“
„Wir müssen als VAR immer einen Schritt im Spiel weiter sein und wissen, was passieren könnte, wie zum Beispiel ein Handspiel im Strafraum bei einem Freistoß.“ Den Spielern sehe man oft schon an, was sie getan hätten. „Da kann man blind auf Elfmeter gehen. Oder wenn sie die Hände über den Kopf halten, kann man blind Rot geben.“ Als Beispiel für eine optimale Zusammenarbeit zwischen Keller und Stadion zeigte Müller in bewegten Bildern das Agieren von Top-Referee Aytekin nach einem rüden Einsteigen: „Deniz beugt sich zu dem gefoulten Spieler runter und sagt ,Pascal, was machen wir?‘, und gewinnt so Zeit für eine Entscheidung. Andere Kollegen stehen herum und greifen sich ans Ohr.“ Das sind dann Szenen, die im Stadion oder vor dem Bildschirm zu Unmut führen. Aber: „Das letzte Wort hat der Schiedsrichter.“
Im siebten Jahr des Video-Schiedsrichterassistenten, von denen Müller vier Spielzeiten dabei ist, hat er festgestellt: „Wichtig ist eine kurze, prägnante Kommunikation. Wir müssen selbst unter Druck Entscheidungen treffen, wie Piloten im Cockpit.“ Bei klaren Fakten wie Abseits sei es nicht erforderlich, dass der Schiedsrichter in die Review Area am Spielfeldrand geschickt wird. Hier erläuterte der Spezialist die exakten Kameraeinstellungen. Eine Neuerung wird es in diesem Bereich bei der Europameisterschaft geben: die halbautomatische Abseitserkennung mit zehn Spezialkameras, die 29 Körperpunkte des Spielers erfasst und Signale an den Schiedsrichter liefert. In der Bundesliga soll es diese Technologie wahrscheinlich ab der Saison 2025/26 geben. Müller schätzt, dass irgendwann der Schiedsrichter-Assistent an der Linie von Künstlicher Intelligenz (KI) abgelöst werden könnte. Für den Schiedsrichter gelte das nicht, denn: „Es gibt nie nur schwarz oder weiß. Szenen im Strafraum kann die KI nicht abdecken.“
Ein besonderes Erlebnis
Vor ein paar Wochen hatte Müller nach mittlerweile 173 Erst- und Zweitligaspielen als VAR seit der Saison 2020/21 ein besonderes Erlebnis: Beim 5:0-Sieg von Bayer Leverkusen gegen Werder Bremen war er erstmals beim Gewinn einer Deutschen Meisterschaft direkt involviert. Das hatte er 2023 noch verpasst, als Borussia Dortmund den Titel mit einem 2:2 gegen den FSV Mainz 05 am 34. Spieltag noch aus der Hand gab. „Die Champions League wäre noch interessant“, nannte Müller, der ab der kommenden Saison nicht mehr auf der Liste der Zweitliga-Schiedsrichter geführt wird, ein Ziel als VAR. In dieser Funktion sei er mit gerade mal neun Zweitligaspielen weltweit der Einzige, der bei internationalen Spielen von der UEFA eingesetzt werde. „Auch der VAR macht Fehler, ich auch. Wenn ein VAR bei klarem Foulspiel nicht eingreift, bekommt er schon mal zwei Wochen Pause. Wir dürfen uns nicht ablenken lassen. Es ist schon 90 Minuten purer Stress, aber das bin ich gewohnt.“
Claus Pfitzer