Vor 100 Jahren initiierte Hans Voelter den Bietigheimer Tag Ein Gegner fauler Kompromisse

Von Claudia Mocek
Oberbürgermeister Karl Mai bei der Eröffnung des Bietigheimer Tags 1971 in der Pauluskirche.⇥ Foto: BZ-Archiv/AD

Vor hundert Jahren fand der erste Bietigheimer Tag statt. Eine Festschrift beleuchtet die Geschichte des Diskussionsforum, das Pfarrer Hans Voelter nach dem Ersten Weltkrieg initiiert hatte.

Dem ersten Weltkrieg folgte ein „Kampf um den Neuaufbau von Gemeinde, Kirche, Volk, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im unheimlichen Umbruch der Zeit“, schrieb Hans Voelter. Der evangelische Pfarrer rief vor hundert Jahren den Bietigheimer Tag ins Leben, ein Forum für Gespräche „zwischen der Evangelischen Kirche und Sozialdemokraten im evangelischen Gemeindehaus.“ Die 52-seitige Festschrift „100 Jahre Bietigheimer Tag. Zuhören, Verstehen, Anstoßen“ zeichnet jetzt die Entwicklung des Bietigheimer Tags nach.

„Ungeheures Wagnis“

Autor und Biologe Dr. Dietmar Kalusche geht darin auf den Initiator Voelter ein und beschreibt den Wandel des Diskussionsforums seit 1921. Journalist Jörg Palitzsch erläutert die Bedeutung des Landtagsabgeordneten Claus Weyrosta für den Bietigheimer Tag.

Als „ungeheures Wagnis“ charakterisierte der frühere Oberbürgermeister Karl Mai die Initiative Voelters. Er bewunderte den Mut, „mit dem Bietigheimer Tag eine so fortschrittliche Geisteshaltung zu postulieren“. Voelter sei Anfeindungen und Schwierigkeiten nie ausgewichen, „weil er stets ein Gegner fauler Kompromisse und des Verwischens grundsätzlicher Unterschiede war“, sagte Mai zum 50. Jahrestag des Bietigheimer Tags. Zur ersten Veranstaltung kamen rund 100 Zuhörer, sie dauerte zwei Tage.

Thematisch beschäftigten sich die Redner mit der „seelischen Krisis des Arbeiters“ und der des Bauernstandes. Veranstaltungen zu Themen wie „Die berufstätige Frau und die Familie“ (1928), „Menschenbildung von heute“ (1931), „Kirche und Arbeiterschaft im Kampf um soziale Gerechtigkeit“ (1948), „Arbeit für alle“ (1979) und „Respekt! Wege aus der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft“ (2018) folgten.

In den 1930er Jahren kamen rund 400 Besucher zum Bietigheimer Tag, schreibt Kalusche. 1931 fand der letzten Bietigheimer Tag vor dem Zweiten Weltkrieg statt – zum Thema „Menschenbildung heute.“ Erst 1948 wurde wieder zum Diskussionsforum nach Bietigheim eingeladen. An den Vorbereitungen waren damals „wohl mehrere Kreise beteiligt, wobei der Evangelischen Akademie Bad Boll und deren Direktor Müller eine tragende Rolle zufiel“, schreibt Kalusche. Oberbürgermeister Karl Mai konnte als Schirmherr gewonnen worden.

Schließlich übernahmen örtliche Gremien der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde und des SPD-Ortsvereins sowie zunächst die Stadtverwaltung die Organisation. 1955 übergab Voelter die Leitung an den Juristen Professor Dr. Richard Otto Gönnenwein.

In seinem Festschrift-Beitrag schildert Kalusche die weitere Entwicklung der Veranstaltung bis zum heutigen Tag. Dabei geht er zum Beispiel auf Phasen ein, in denen der Bietigheimer Tag in die Kritik geriet, etwa weil zu wenig diskutiert worden sei oder die Vorträge keine nachhaltige Wirkung entfaltet hätten. Er berichtet von den wechselnden Machern und den erfolglosen Versuchen der CDU, sich ebenfalls in den Bietigheimer Tag einzubringen.

Veranstaltung im Oktober

In den 1960er Jahren übernahm der SPD-Politiker Claus Weyrosta die Federführung für die Sozialdemokratie. „Weyrosta trieb den Dialog mit brisanten Themen und sachkundigen Referenten zwischen Politik und der evangelischen Kirche voran, die er stets als Partner auf Augenhöhe verstand“, schreibt Jörg Palitzsch in seinem Beitrag zur Festschrift

„Zuhören, Verstehen, Anstoßen“, so lautet das Thema des Bietigheimer Tags 2021, der am letzten Wochenende im Oktober organisiert und von Bernhard Ritter von der evangelischen Kirche und Thomas Reusch-Frey von der SPD moderiert wird. Damit findet er – mit Unterbrechungen in den Jahren 1932 bis 1947, 1978, 1980 und 2020 – seit hundert Jahren statt. „Wegen dieser Umstände werden die Bietigheimer Tage nicht durchgezählt“, erläutert Kalusche.

Noch 1971 wünschte Initiator Hans Voelter den Freunden des Bietigheimer Tags: „Nun aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt, wir gehn an unseres Meisters Hand und unser Herr geht mit“.

 
 
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