Im gut gefüllten Musiksaal der Realschule im Aurain ist es still, als Ruth Michel-Rosenstock spricht. Als eine der letzten Holocaust-Überlebenden hat die 96-Jährige am Mittwoch vor mehreren Schülerinnen und Schülern einen autobiografischen Vortrag gehalten.
Zeitzeugin in Bietigheim-Bissingen „Ich sehe mich in der Pflicht, meine Erinnerungen zu teilen“
Ruth Michel-Rosenstock überlebte den Holocaust im damals polnischen Mikuliczyn. Am Mittwoch hat sie ihre Geschichte vor mehreren Schülerinnen und Schüler der Aurain-Realschule erzählt.
„Gerade in Zeiten wie diesen, in denen Antisemitismus und Hass leider wieder eine Rolle spielen, sind wir dankbar, dass Zeitzeugen ihre Erfahrungen mit uns teilen“, sagte Schulleiter Harald Schmitt zu Beginn der Veranstaltung. Er sagte den Schülerinnen und Schülern auch, dass sie die Chance nutzen und mit Ruth Michel-Rosenstock ins Gespräch gehen sollten. „Denn andere nach euch haben das Privileg, die Geschichte von Zeitzeugen zu hören, nicht mehr“, so Schmitt. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Friedrich-Naumann-Stiftung, deren Ziel es unter anderem ist, politische Bildung zu vermitteln.
Viele Bekannte ermordet
Die Jugendlichen lauschen dem Vortrag der 96-Jährigen, die zu Beginn sagt, dass sie viele der ermordeten Jüdinnen und Juden kannte. Darunter seien Nachbarn gewesen, Klassenkameraden, weitere Bekannte. Und auch ihr eigener Vater. „Ich sehe mich in der Pflicht, zu berichten und meine Erinnerungen zu teilen“, erklärt sie.
Geboren ist Ruth Rosenstock, wie sie damals hieß, 1928 in Königsberg (Ostpreußen) als Tochter eines jüdischen Vaters und einer evangelisch-christlichen Mutter. In einem Konzentrationslager war sie nicht, sagt sie. Das Beispiel ihrer Familie soll aber verdeutlichen, wie Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus in Angst und Schrecken lebten.
Im Alter von sechs Jahren verließen die Eltern mit Ruth und der jüngeren Schwester Deutschland und zogen in die Waldkarpaten, in das damals polnische Mikuliczyn. „Ich konnte die Sprache nicht. Aber die Kinder auf der Straße haben Jiddisch gesprochen und ich konnte sie auf diese Weise verstehen.“
1939 marschierten die Russen ein, 1941 erlebte sie die Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Ukrainische Männer seien zu den Helfern der Deutschen geworden, erinnert sie sich. „Sie benahmen sich wie die Vandalen und schlugen nachts Fenster ein. Mit der deutschen Besetzung wurden die Juden hilflos. Wir fragten uns, wie das alles weitergehen soll“, sagt Michel-Rosenstock.
Vater musste sich verstecken
Ihr Vater sei davon überzeugt gewesen, dass die Deutschen kultiviert und zu keinen Verbrechen fähig seien. Als Jude musste er die Familie verlassen und fliehen. So übergab er der zu diesem Zeitpunkt 13-jährigen Ruth die Verantwortung, für Mutter und Schwester zu sorgen. „Ich fühlte mich zu jung. Aber ich wusste, dass meine Kindheit nun vorbei war“, sagt sie. Immer wieder machte sie sich mit Haushaltsgegenständen bepackt auf den Weg zu einer Sammelstelle und tauschte diese gegen Lebensmittel. Auch ihrem Vater brachte sie Herrenwäsche und Lebensmittel in das 15 Kilometer weit entfernte Versteck.
1941 wurde das Haus der Familie vom Hochwasser des Pruth zerstört. Der Vater kam zurück und die Familie fand eine kleine Unterkunft. Er begann zudem, in einem Sägewerk zu arbeiten. „Einige Juden versuchten zu fliehen“, sagt sie. „Wir lebten ständig zwischen Angst und Hoffnung. Bis zum Dezember.“ Bis ihr Vater zusammen mit den anderen jüdischen Arbeitern abgeholt wurde. Es gab eine Razzia im ganzen Ort, die Juden wurden ins enge Gemeindegefängnis gesteckt. Im Wald wurden sie ein paar Tage später reihenweise erschossen.
Flucht nach Königsberg
„Ich war entsetzlich traurig und voller Hass“, sagt Michel-Rosenstock. Weil das Haus durch das Hochwasser unbewohnbar war und sie sich deswegen nicht im Ort aufhielten, konnten sie, ihre Mutter und die Schwester, entkommen. 1942 gelang die Flucht zurück nach Königsberg.
Ihre Geschichte hat sie aufgeschrieben, nachdem ihr Mann starb, und veröffentlichte sie als Biografie. „Vor ein paar Jahren bin ich in Mikuliczyn gewesen und habe das Grab meines Vaters besucht. Ich habe eine Gedenktafel anbringen lassen. Sie soll an ihn und an all die Jüdinnen und Juden erinnern, die an diesem Ort von den Nationalsozialisten ermordet wurden“, sagt sie.
Die Schülerinnen und Schüler der Aurain-Realschule hatten im Anschluss die Möglichkeit, der 96-jährigen Zeitzeugin Fragen zu stellen. So fragt eine Schülerin, wie Ruth Michel-Rosenstock es schaffte, nach dem Krieg weiterzuleben. Sie erklärt, dass es nicht leicht gewesen sei, dass sie das Gefühl nach Rache verspürt habe und man mit den Erinnerungen leben müsse. „Dieses Gefühl, das man damals hatte, das bleibt erhalten“, sagt sie.
Eine andere Schülerin möchte wissen, was sich die Holocaust-Überlebende von der aktuellen Generation wünscht und was diese besser machen kann. Ihr Appell: „Achten Sie darauf, dass es keine Diskriminierung gibt. Egal, in welche Richtung.“