Inklusion im Landkreis Strategien des Optimismus entwickeln

Von Petra Neset-Ruppert
Mit ihrem Fernsehlesegerät kann die Ludwigsburgerin Strittmatter Foto: /Martin Kalb

Die promovierte Fachschulrätin Roswit Strittmatter aus Ludwigsburg fand ein Konzept, um Kinder mit Sehbeeinträchtigung zu stärken. Sie entwickelte für sich selbst Strategien, um mit ihrer Seh- und Hörbeeinträchtigung, sowie der Demenz ihres Mannes umzugehen.

Das ist eine Beeinträchtigung. Ich möchte nicht von Behinderung sprechen, denn dieser Begriff ist für mich sehr negativ belastet“, erklärt Roswit Strittmatter. Die 76-Jährige hat seit ihrem 24. Lebensjahr eine Sehbeeinträchtigung und mit 50 Jahren verschlechterte sich auch ihr Hörsinn.

Als bei ihr eine trockene juvenile Makuladegeneration, eine Krankheit, die unheilbar ist und zur Blindheit führt, festgestellt wurde, entschied sich die junge Lehrerin für ein Zusatzstudium der Sehbehinderten- und Blindenpädagogik. Am Staatlichen Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit dem Förderschwerpunkt Sehen Sankt Michael in Waldkirch im Schwarzwald fing sie als Lehrerin an.

„Das war ein wichtiger Moment für mich. Ich kam in die Klasse und merkte, die Kinder haben die gleichen Probleme wie ich. Ich muss ihnen ein Vorbild sein“, erinnert sich Strittmatter. Damals war sie im Kollegium noch die einzige Lehrkraft mit einer Sehbeeinträchtigung. Schnell merkte sie, dass die Kinder einen Raum brauchen, in dem sie Strategien entwickeln können, die ihnen helfen, im Alltagsleben einer auf Sehen ausgerichteten Gesellschaft zurecht zukommen.

Förderkonzept entwickelt

„Ich wollte die Kinder von innen stark machen, damit sie aus einer inneren Mobilität heraus auf die Barrieren reagieren können, die ihnen begegnen“, erklärt die 76-Jährige. „Soziales Lernen“ heißt das Förderkonzept für sehbehinderte Schüler, dass sie damals in ihrem Schulalltag entwickelte.

„Ich weiß noch, dass ich am Anfang immer wieder panische Angst davor hatte, blind zu werden – mit Panikattacken auf dem Schulhof. Aber das Vetrauen der Schüler und Eltern in meine Arbeit hat mir Kraft gegeben, so dass ich an dieser Herausforderung wachsen konnte“, erinnert sich die Sozialpädagogin. Kraft zieht sie auch aus ihrem Glauben, der für sie sehr wichtig geworden ist.

Vorlesen für Doktorarbeit

Eine Freundin überredet sie, ihre Pädagogikstrategien auf ein wissenschaftliches Level zu bringen und darin zu promovieren. „Ohne meine Mutter hätte ich das damals nicht geschafft“, erinnert sich Strittmatter. Denn neben ihrer Schulleiterposition am SBBZ und der Promotion kümmerte sie sich auch noch um ihre beiden Töchter. „Für meine Doktorarbeit hat meine Mutter mir alles vorgelesen, denn damals gab es noch nicht so viele Hilfsmittel.“ Nach der Veröffentlichung ihrer Arbeit 1999 wird sie in ganz Europa auf Kongresse eingeladen, um das neue Pädagogikkonzept vorzustellen.

„Mir ist es wichtig, dass wir gerade den Kindern etwas an die Hand geben, dass sie stärkt“, erklärt Strittmatter, denn sie hat selbst erlebt, wie kräftezehrend ein Neustart sein kann. Ihre beiden Schwestern erkrankten ebenfalls an der juvenilen Makuladegeneration und mussten sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben umorientieren. „Aber jede hat ihren Weg gemacht“, freut sich Strittmatter. Als auch eine ihrer beiden Töchter die Diagnose erhielt, war es für sie schwierig. „Ich habe so gelitten, weil ich das ja an sie weitergegeben habe“, sagt die 76-Jährige. Doch auch die Tochter fand einen Weg, mit der neuen Situation umzugehen und sattelte um, von der Gynäkologin zur psychotherapeutischen Fachärztin.

„Wir Töchter haben damals viel von meiner Mutter gelernt, wie man mit Schwierigkeiten umgeht und Strategien des Optimismus entwickelt. Das hat uns allen sehr geholfen“, so Strittmatter. Nachdem sie im Alltag mit ihrer Sehbeeinträchtigung gut zurecht kam, wartete die nächste Herausforderung auf sie: Ein beginnender Hörverlust im Alter von 50 Jahren. Doch sie wusste, was nun für sie wichtig war, die Strategie entwickeln, um mit der neuen Beeinträchtigung gut zurechtzukommen. „Das habe ich auch alles gut geschafft, aber dann merkte ich, dass es Situationen gab, die mich zu stark belastet haben“, erklärt die Sozialpädagogin. So wurden die Zugfahrten aus dem Schwarzwald nach Marbach, um bei ihren Enkelkindern zu sein, immer schwieriger. „Ich habe die Ansagen zu den Haltestellen nicht mehr gehört. Diese Fahrten waren für mich mit sehr viel Stress verbunden.“

Wenig später zieht sie mit ihrem Mann nach Ludwigsburg, um in der Nähe der Tochter zu sein und sie zu unterstützen. Als sie sich eingelebt haben und Strittmatter ihre Strategien für die zusätzliche Hörbeeinträchtigung entwickelt hat, wird bei ihrem Mann Demenz diagnostiziert. Für sie bedeutete es wieder eine neue Herausforderung, denn um das Schriftliche hatte sich immer er gekümmert. Eine Bürokraft und ein Fernsehlesegerät halfen ihr auch diese Aufgaben zu übernehmen. „Mein Leben ist nie langweilig gewesen. Ich musste mich immer wieder auf Neues einstellen“, lacht Strittmatter. Die Hilfe von Mitmenschen mache es leichter, die Barrieren im Alltag zu überwinden. Denn schon das Ausfüllen eines Formulars ist mit ihrer Sehbeeinträchtigung kaum machbar.

Frustrationstoleranz entwickelt

„In der Inklusion hat sich bereits viel bewegt. Gerade im baulichen Bereich. Doch für Menschen mit Sehbeeinträchtigung ist es noch zu wenig“, betont die Ludwigsburgerin. Es beginne schon damit, dass es zu wenig Bücher im Großdruck gebe und eben auch bei Formularen Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung nicht mitgedacht würden. Ja, über die Jahre habe sie eine gewisse Frustrationstoleranz entwickeln müssen, doch das sei Teil ihrer Strategie zur inneren Stärke. Viele tolle Erlebnisse mit Menschen haben ihr die Kraft gegeben, immer weiterzumachen. Für Roswit Strittmatter ist Inklusion dann erreicht, wenn „die Vielfalt der menschlichen Lebensbeeinträchtigungen erkannt, erlebt und verinnerlicht und im Alltag als selbstverständlich angenommen und umgesetzt werden“.

 
 
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