Bietigheim-Bissingen Als es noch ein Dampfkraftwerk in der an der Enz gab

Von Erwin Ruff
Das Luftbild zeigt das Bietigheim-Bissinger Kraftwerk und stammt aus den 1950er-Jahren. Foto: Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen/Aero Express

Das 1911 in den Langwiesen in Bietigheim-Bissingen gebaute Kohle-Dampfkraftwerk wurde 1968 stillgelegt. Ein Blick in die lokale Industriegeschichte.

Wer weiß heute noch, dass in den Langwiesen an der Enz unterhalb des Wäldchens „Brandhalde“ an der Markungsgrenze zwischen Bissingen und Bietigheim bis Ende der 1960er-Jahre ein Kohle-Dampfkraftwerk betrieben wurde? In der Frühzeit der Elektrifizierung um 1900 wurden auch im Königreich Württemberg Elektrizitätsgesellschaften gegründet und Kraftwerke erstellt. Damals gab es einen regelrechten Ansturm auf den elektrischen Strom.

Versorgung lag bei 66 Prozent

Im gesamten Königreich Württemberg waren 1913 von den 1905 Gemeinden bereits 1258 oder 66 Prozent mit Elektrizität versorgt. Hervorgegangen aus der 1900 gegründeten Glemsmühle GmbH Münchingen entstanden am 15. September 1909 die Enzgauwerke GmbH Bissingen. Für den Bau eines Dampfkraftwerks an der Enz mit einer Leistung von 600 Kilowatt erteilte das Königliche Württembergische Ministerium des Innern den Enzgauwerken am 3. September 1910 die Genehmigung. Proteste der Städte Bietigheim und Besigheim wegen der Entnahme von Enzwasser zur Speisung der Dampfkessel, zur Kühlung und zur Kondensation wies das Ministerium als unbegründet zurück. Am 10. Mai 1911 ging das Kraftwerk in Betrieb. Es wurde 1913 an die Neckarwerke AG Esslingen verkauft. Weil die Enzgauwerke nun keinen eigenen Strom mehr erzeugten, bezogen sie ihn von den Neckarwerken, um in ihrem Versorgungsgebiet 76 Gemeinden zwischen Ditzingen im Süden, Massenbachhausen im Norden, Ottmarsheim im Osten und Leonbronn im Westen zu beliefern. 1942 gingen die Enzgauwerke in den Neckarwerken auf.

Erweiterung folgte rasch

Wegen der immensen Stromnachfrage erweiterten die Neckarwerke das Kraftwerk sofort nach dem Kauf. Durch zwei Dampfkessel und zwei Dampfturbinen wurde die Ausbauleistung auf 6,6 Megawatt erhöht. Die notwendige Kohle wurde vom Bahnhof Bietigheim herangeschafft und gelangte über ein an den Hang angelehntes offenes Kohlesilo automatisch in die Kessel.

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs gab es große Probleme mit der Kohleversorgung. Die Kohlelieferungen für das mittlerweile zu einer wichtigen Stütze gewordene Dampfkraftwerk stockten und die Stromerzeugung musste zurückgefahren werden, was zu Versorgungsengpässen führte. 1919/1920 kam es zur „Kohlekrise“, weil die Bergarbeiter im Ruhrgebiet, die Eisenbahner und die Entladearbeiter im Mannheimer Hafen streikten. Für den Kohletransport konnten die Neckarwerke ab den 1920er Jahren das Industriegleis der Bissinger Rommelmühle mitnutzen.

Nebenanschluss wurde gebaut

Etwa 800 Meter nach dem Bahnhof Bietigheim wurde am Gleisabschnitt in der Brandhalde nach rückwärts rechts vom Stammgleis liegend ein 520 Meter langer Nebenanschluss bis oberhalb des Kraftwerksgeländes gebaut. Dort wurden die Waggons in einer Übergabegruppe entleert, von wo aus die Kohle talabwärts in den Kohlebunker rutschte. Täglich verkehrten Güterzüge zwischen Bahnhof und Kraftwerk. Infolge der sich dauernd steigernden elektrischen Neuanschlüsse wurden 1923 neben dem bestehenden Gebäude in einem neuen Maschinen- und Kesselhaus drei Dampfkessel und eine Dampfturbine installiert, wodurch die Gesamtleistung des Werks auf 12,6 Megawatt stieg. Gleichzeitig wurde das Kohlesilo vergrößert.

Probleme mit dem Brennstoffnachschub gab es nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich und Belgien im Januar 1923. Im Zuge einer Modernisierung bauten die Neckarwerke 1930 zwei größere Dampfkessel in ihr Bissinger Kraftwerk ein. Infolge der Weltwirtschaftskrise kam es ab 1930 zu einem Abwärtstrend in der Wirtschaft, sodass das Kraftwerk zeitweise stillgelegt werden musste. Auch in den Folgejahren war es nur eingeschränkt in Betrieb. Erst ab 1938 verbesserte sich die Situation. Während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere ab 1942, wurde die Kohle vorrangig für Rüstungsbetriebe benötigt, weshalb die Neckarwerke fortan zu einem Rüstungsbetrieb erklärt wurden. Bauliche Maßnahmen waren wegen der Materialknappheit während der Kriegsjahre nicht möglich. Glücklicherweise blieb das Kraftwerk im Zweiten Weltkrieg unbeschädigt. Mutige Mitarbeiter konnten die befohlene Sprengung in den letzten Kriegstagen verhindern.

1945 stand das Kraftwerk still

Wegen ausbleibender Kohlelieferung stand das Kraftwerk 1945 mehr oder weniger still. Weil die amerikanische Militärregierung 1946 Stromeinsparungen forderte, wurde das Kraftwerk an je zwei Wochentagen abgeschaltet. 1949 wurden durch Erneuerungen 13,6 Megawatt generiert.

Investitionen in den 1950er-Jahren verbesserten die Wirtschaftlichkeit. Wegen des hohen Kohleverbrauchs wurde das veraltete Dampfkraftwerk aber mehr und mehr zur Abdeckung von Lastspitzen und schließlich als Reserveanlage genutzt, ehe es zum 1. Januar 1968 stillgelegt und abgebrochen wurde.

An seine Stelle trat das neue Dampfkraftwerk in Walheim. Schon 1963 wurde untersucht, ob auf dem Bissinger Kraftwerksstandort eine Müllverbrennungsanlage gebaut werden könne. Bietigheims damaliger Bürgermeister Karl Mai verhinderte derartige Planungen. Im Zuge der Landesgartenschau 1989 wurde im Enztal auf der Fläche des früheren Kraftwerks ein Biotop mit knorrigen Kopfweiden angelegt.

 
 
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