Bietigheim-Bissingen Der Strommarkt hat sich stark verändert

Von Uwe Mollenkopf
Ein Strommast in Bietigheim. Bei den Stromverträgen hat sich vieles geändert. Foto: /Martin Kalb

Die Industrie leidet unter hohen Energiekosten und mangelnder Planungssicherheit. Die Stadtwerke verweisen auf schwankende Preise.

Die Strompreise sind seit 2021 stark in Bewegung geraten. Nach einem leichten Anstieg ging es mit Beginn des Ukrainekrieges 2022 explosionsartig nach oben. 2023 sank der Preis wieder, verharrte allerdings auf höherem Niveau. Neben den Privathaushalten müssen insbesondere Unternehmen, die große Mengen an Strom brauchen, auf den Preis schauen. Die BZ fragte Dr. Michael Allert, Mitglied des Vorstands der Industrievereinigung Bietigheim-Bissingen, wie er die aktuelle Lage einschätzt und ob eine Entspannung bei den Preisen spürbar sei.

Unklare Zukunftsperspektive

Entspannung sei relativ, sagt der Unternehmer. Die ganze Strompreisentwicklung sei aufgrund vieler Nebeneffekte nicht so einfach zu beurteilen. Strompreisbremse, Preisentwicklung und langfristige Vereinbarungen mit neuen Lieferanten würden nachwirken. Und: „Die Ausrichtung der Politik hat leider auch nicht zu einer Beruhigung des Marktes beigetragen“, so Allert. Im Endeffekt leidet die Industrie seiner Einschätzung nach unter hohen Energiekosten und einer unklaren Zukunftsperspektive und müsse schauen, wie sie mit den Rahmenbedingungen klarkomme.

Teil der Entwicklung sind auch Verträge mit den Energieversorgern wie den Bietigheim-Bissinger Stadtwerken (SWBB) über die Stromlieferungen, die – im Gegensatz zu denen mit Privathaushalten – ganz individuell gestaltet sind. „Es gibt eine Vielzahl individueller Lieferverträge“, sagt Richard Mastenbroek, der Geschäftsführer der SWBB. Die Verträge würden sich nach dem Stromverbrauch der Betriebe richten, ebenso nach den Zeiten, in denen der Strom vor allem benötigt werde, dem sogenannten Lastgangverhalten.

Vielzahl an Verträgen

Betriebe könnten Verträge über unterschiedliche Zeiträume abschließen, es gebe Portfolioverträge, bei denen der Kunde entscheide, wann welche Menge bestellt werde, um dann zu kaufen, wenn der Preis günstig ist. Üblich sind auch Mehr-/Mindermengenregelungen – wenn zu viel oder zu wenig Strom im Vergleich zur vereinbarten Menge verbraucht wird, wird an der Strombörse entweder verkauft oder zugekauft.

Auf diese Weise sollen die Chancen und Risiken bei der Beschaffung an der Strombörse zwischen Stadtwerken und Kunden aufgeteilt werden, so der Geschäftsführer. Eine Vollversorgung für die Kunden wie in der Vergangenheit gebe es nicht mehr. Das Stromgeschäft ist laut Mastenbroek ein Kerngeschäft der Stadtwerke, das Verhältnis von Privathaushalten zu Gewerbe beim Strom sei vom Umfang her etwa 1:2.

Wie sieht man seitens der Industrie diese Individualisierung? „Überhaupt nicht gut“, sagt Dr. Michael Allert. „Je individueller die Regelungen werden, je kürzer die Laufzeiten und je schneller die Unternehmen sich entscheiden müssen, desto schwieriger wird die Situation für sie.“ Er bemängelt einen kurzen Vorlauf. Eine Entscheidung zu so einem wichtigen Thema wie die Strom- und Gasversorgung innerhalb von ein bis zwei Tagen entscheiden zu müssen, „hat ja mit funktionierender Marktwirtschaft nichts mehr zu tun“, erklärt der Bietigheimer Unternehmer („baslerbeauty“).

300 Mal negativer Strompreis

Stadtwerke-Chef Mastenbroek verweist indes auf die allgemeine Entwicklung am Strommarkt. Vor 2020 hätten sich die Preise relativ gleichmäßig entwickelt, seither gebe es starke Schwankungen. Die Gründe seien vielfältig. Neben der konjunkturellen Situation spiele der Vormarsch von Strom aus Wind und Sonne eine große Rolle. Je nachdem, ob es viel Wind und sonnige Tage gebe, könne es ein Überangebot geben – mit fallenden Preisen. So habe man 2023 in rund 300 Fällen einen negativen Strompreis gehabt. Auf der anderen Seite sei die Dunkelflaute – wenig Wind und kein Solarstrom bei Nacht – das andere Extrem.

Stromspeicher, die nötig wären, um das zu verhindern, seien noch zu unwirtschaftlich, der Aufbau einer Gas-Kraftwerksstruktur als Reserve noch in der Diskussion. „Es ist daher sehr schwierig, verlässliche Prognosen abzugeben“, so Mastenbroek.

Aus Sicht der Industrie wünscht sich Dr. Michael Allert hingegen „wieder mehr Transparenz, schnellere Informationen und eine wieder bessere Betreuung zu haben“. Es stelle sich die Frage, ob der Kunde sich nur noch zwischen dem kleinstmöglichen Übel beim Preis entscheiden könne oder absehbar gute Alternativen aufgezeigt würden und er längerfristige Sicherheit erhalte. „Das sind absehbar Forderungen, ohne die eine funktionierende Wirtschaft in Deutschland nicht mehr reibungslos funktionieren wird“, sagt Allert.

Verbraucher zahlt Zeche

Von der beschlossenen Senkung der Stromsteuer seitens der Bundesregierung erwartet der Unternehmer auch keine wesentliche Entlastung. Das sei „wieder so eine Sofortmaßnahme aus der Not heraus“. Wenn man von Aktion zu Aktion hüpfe, werde das die Inhalte nicht glaubwürdiger machen. „Hinzu kommt ja auch, dass die Industrie und im Endeffekt damit der Verbraucher, also wir alle, die Zeche zahlen wird“, so Allert.

Zwar vermeldeten einige wenige Unternehmen, meist Konzerne, wieder tolle Ergebnisse – „für mich auf Kosten der Allgemeinheit“, so der Unternehmer. Wenn etwa die EnBW von einem wirklich tollen Ergebnis rede und davon, gut eingekauft zu haben, stelle sich die Frage, ob deren Kunden dann schlecht eingekauft hätten. „So kann es aus meiner Sicht nicht weitergehen“, sagt das Vorstandsmitglied der Industrievereinigung. 

 
 
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