Bietigheim-Bissingen Fluchtgeschichte, die bewegt

Von Jonathan Lung
Bietigheim Vortrag des Geschichtsvereins Beitigheim-Bissingen Dr. Christoph Florian (links) sowie Lesedialog zum Buch „Die Flucht der Jüdin Bertha Amend“ von Günter Thumm(rechts). Foto: /Martin Kalb

Autor Günter Thumm liest beim Geschichtsverein in Bietigheim-Bissingen.

„Was damals in unserer Heimat Baden-Württemberg Furchtbares geschah“, das sei ihm deutlich geworden, als er die Geschichte der traumatischen Flucht der Jüdin Bertha Amend entdeckte, recherchierte und schließlich aufschrieb, erklärte Günter Thumm am Donnerstagabend im gut gefüllten Bietigheimer Enzpavillon. Es war eine bewegende Geschichte, die der Autor bei der Veranstaltung des Geschichtsvereins zusammen mit Rosa-Maria Martinez in Lesedialogen plastisch vortrug.

Den Anfang machte aber Dr. Christoph Florian vom Bietigheimer Stadtarchiv. Er ordnete das individuelle Schicksal der Jüdin Bertha Amend ein in die historischen Zusammenhänge: Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft boten Mischehen wie die von Amend sogar noch einen gewissen Schutz vor Verfolgung, besonders, wenn Kinder daraus hervorgingen. Schon 1935 wurden aber Forderungen nach Scheidung solcher Ehen laut, bald darauf wurde die Anführung „rassischer Gründe“ für Scheidungen juristisch möglich.

Kurz vor Kriegsende kam es dann zu zahlreichen Deportationen. Diese wurden häufig als Aufforderung zum Arbeitseinsatz getarnt, zu dem die Jüdinnen und Juden antreten mussten – wie das auch bei Bertha Amend der Fall war. Die Aufforderung kam, bürokratisch korrekt, mit einer umfangreichen Packliste: Kleidung und Nahrungsrationen mussten die Betroffenen selbst in ausreichender Menge mitbringen. Von den Sammelstellen ging es dann häufig direkt mit dem Zug in die Todeslager.

Der Gefahr sofort bewusst

Bertha Amend, so schildert sie es in ihren Aufzeichnungen, ist sich der Gefahr sofort bewusst, als sie im Februar 1945 den Brief der Gestapo mit der Aufforderung zu einem „Arbeitseinsatz“ bekommt. Der letzte Ausweg scheint ein Attest über Arbeitsuntauglichkeit des Amtsarztes zu sein – als sie ihn unerlaubterweise öffnet, bevor sie ihn abgibt, habe sie erkannt, dass sie „mein Todesurteil“ in der Hand halte: Der Arzt, selbst überzeugter Nazi, beurteilt sie als voll arbeitsfähig. Ihre Entscheidung zur Flucht fiel in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar: die weinende Tochter beim Vater zurücklassend, verlässt sie die Familie, offiziell, um noch etwas aus dem bereits zerstörten Haus in Stuttgart zu holen und davon nicht zurückzukommen, vermutlich bei den andauernden Fliegerangriffen umzukommen. Ein Alibi, das ihre Flucht verheimlichen und die Familie schützen soll.

Auf eigene Faust beginnt nun ihre insgesamt dreimonatige Flucht, die sie emotional an ihre Grenzen bringt: Immer in der großen Gefahr, mit ihren sie als Jüdin ausweisenden Papieren aufgegriffen zu werden, lebt sie zuerst in einem Luftschutzkeller, bis es dem Besitzer zu gefährlich wird. Alleine muss sie weiterziehen. Von einer anderen Flüchtenden erhält sie schließlich neue Papiere, die diese nicht mehr benötigt. Mit neuer Identität sucht sie Zuflucht auf einem Hof, arbeitet als unbezahlte Magd. Als sich schließlich eine Patrouille amerikanischer Fallschirmjäger dem Hof nähert, ist sie die einzige, die sich ausgelassen darüber freut – für ihre Arbeitgeber, die ihre Identität nicht kennen, ist das Kriegsende keine Befreiung.

Im April macht sie sich auf die Suche nach ihrer Familie, die Flucht ist vorbei. In Deutschland kann sie aber nicht bleiben: 1947 kommt sie in Amerika an, wo sie schließlich auch ihre Erinnerungen verfasst. Sie strebt ein Wiedergutmachungsgesuch bei der Bundesrepublik an, neben der geringen finanziellen Summe ging es ihr vor allem um die symbolische Bedeutung.

Auf dieser Dokumentation, die Günter Thumm im Ludwigsburger Staatsarchiv fand, beruht seine Erzählung, ergänzt durch weitere Recherchen. „Das Archivierte in einer Erzählung zum Leben zu erwecken“ war das Ziel des gemeinsamen Projekts „Literatur und Zeitgeschichte – Schreiben nach Akteneinsicht“ des Staatsarchivs Ludwigsburg und der Schreibwerkstatt unter Leitung von Ursula Jetter. Mithilfe der Archivare wurden unter zwei Millionen Akten Geschichten gesucht – was schließlich unter anderem in die im Vorjahr erschienene Erzählung von Thumm mündete.

 
 
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