Erinnerung: Zusammenschluss von Bietigheim und Bissingen „Grenzkontrolle“ beim Bahnhof

Von Martin Hein
BZ-Archiv/ad Quelle: Unbekannt

Vor 50 Jahren stimmten die Bissinger noch mit großer Mehrheit für die Selbständigkeit ihrer Gemeinde. Erst 1975 schlossen sich Bissingen und Bietigheim zusammen.

Erst 1975 schlossen sich Bissingen und Bietigheim zusammen. Neu war die Idee nicht, dass Bietigheim und Bissingen eine gemeinsame Stadt bilden könnten. Bereits 1902 gab es Bestrebungen von Bietigheimer Seite aus, zumindest Teile von Bissingen einzugemeinden.

Vor allem die Parzelle Bissingen, beim Bahnhof gelegen, weckte Bietigheimer Begehrlichkeiten – ohne Erfolg. 1910 hat Bietigheim erneut Interesse bekundet, die Bissinger Parzelle samt ihrer 261 Einwohner bis zur Rosenstraße einzugemeinden. Da die Parzelle in wirtschaftlichem Zusammenhang mit Bietigheim stehe, dürfe die Stadt Bietigheim in ihrer Weiterentwicklung nicht gehindert werden. Das allgemeine Wohl verlange eine notwendige Änderung und Zuteilung nach Bietigheim, lautete die Begründung. Der Bissinger Gemeinderat empfand, dass es eine starke Zumutung sei, zu verlangen, dass Bissingen ein bedeutendes wertvolles Stück seiner Markung an Bietigheim abtreten solle und lehnte den Antrag einstimmig ab. 1912 votierten von den 91 Wahlberechtigten Bewohner der Parzelle 77 für den Verbleib bei Bissingen.

Einige Jahrzehnte später war das Thema Zusammenschluss von Bietigheim und Bissingen plötzlich wieder ganz aktuell: Der Landtag von Baden-Württemberg verabschiedete im März 1968 ein Gesetz zur Stärkung kleiner Gemeinden mit dem Ziel im Rahmen einer Verwaltungs- und Gebietsreform auf kommunaler Ebene größere und effizientere Einheiten zu bilden.

Etliche Gemeinden haben sich daraufhin zusammengeschlossen. Zwischen Bietigheim und Bissingen gab es zwar Annäherungsversuche, die zumeist aus der Bietigheimer Richtung kamen, das Interesse der Gemeinde Bissingen hielt sich, vorsichtig ausgedrückt, in Grenzen.

Im März 1971 gründete sich in Bissingen eine Bürgerinitiative „Zusammenschluss – keine Eingemeindung“. Ziel der Initiative war, die Bürgerschaft über ein mögliches Zusammengehen mit Bietigheim aufzuklären. Am 18. April sollte in Bissingen eine Bürgeranhörung stattfinden, bei der die Bissinger abstimmen konnten, ob sie selbstständig bleiben wollten, oder ob ein Zusammenschluss mit Bietigheim angestrebt werden solle.

Tumult bei Bürgerversammlung

Zunächst fand in Bissingen am 14. April eine Bürgerversammlung statt, bei der ein möglicher Zusammenschluss erörtert wurde.

Der Berichterstatter des Enz- und Metter-Boten beschrieb, dass diese Veranstaltung „recht lebhaft, um nicht zu sagen, turbulent, verlaufen“ sei. Vor allem der fraktionslose Bissinger Gemeinderat Dr. Paul Steinecke sorgte demnach auch mit der Verlesung eines Flugblattes für erhebliche Unruhe. Der Diskussionsleiter Regierungsrat Walter vom Regierungspräsidium verwarnte den streitbaren Bissinger Gemeinderat Steinecke dreimal, bis ihm schließlich das Wort entzogen wurde. Steinecke verteilte das Flugblatt am nächsten Tag in Bissingen. Gegen dieses Flugblatt erwirkte der Bissinger Bürgermeister Ernst Silcher umgehend eine einstweilige Verfügung beim Amtsgericht Ludwigsburg.

In dem Flugblatt wurde Silcher persönlich beleidigt. Von schwerer Ehrenkränkung in dem Schriftstück war damals ebenfalls die Rede. Steinecke brach daraufhin die Weiterverbreitung des Flugblattes ab.

Schlagbaum aufgestellt

In dieser emotional höchst aufgeheizten Situation veranstaltete die kurz zuvor gegründete Bissinger Bürgerinitiative äußerst medienwirksam eine bis heute legendäre Aktion, die es damals sogar ins Fernsehen schaffte. An der Markungsgrenze zwischen Bietigheim und Bissingen stellten die Aktivisten ein Schilderhaus mit Schlagbaum auf und verteilten Flugblätter. Damit sollte karikiert dargestellt werden, dass man in Bissingen wachsam sei, weil die Bietigheimer es nur auf die Finanzkraft Bissingens abgesehen hätten. Ein Argument, das in Bissingen die Freie Wählervereinigung (FrWV) und die Unabhängigen Wähler (UW) gerne bemühten, um gegen einen Zusammenschluss zu stimmen.

Gekrönt wurde die Schlagbaum-Aktion noch mit einem Transparent mit der Aufschrift „Kleinkarierte Selbständigkeit: Nein!“. Zudem verteilten die Mitglieder der Initiative Flugblätter an Passanten.

Auch die Gegenseite machte mobil: Am Tag vor der Bürgeranhörung fuhren Bissinger Landwirte in mehreren Gruppen mit ihren mit Transparenten versehenen Traktoren durch alle Straßen Bissingens und Untermbergs und demonstrierten für ein selbstständiges Bissingen.

Zusammenschluss abgelehnt

In dieser angespannten Stimmung fand einen Tag später, am 18. April 1971, die Bürgeranhörung statt, bei der 5796 wahlberechtigte Bissinger über die Frage „Soll Bissingen weiterhin selbständig bleiben?“ abstimmen durften. 3978 gaben ihre Stimme ab. Das Ergebnis war mehr als eindeutig: 2994 Wähler stimmten für die Selbstständigkeit Bissingens, 937 votierten hingegen für den Zusammenschluss mit Bietigheim, 47 Stimmzettel waren ungültig. Damit war der Zusammenschluss vom Tisch, vorerst.

Die Zeit für einen Zusammenschluss war vor 50 Jahren anscheinend noch nicht reif. Letztendlich fanden Bissingen und Bietigheim ein paar Jahre später doch noch zusammen und bilden seit dem 1. Januar 1975 die große Kreisstadt Bietigheim-Bissingen.

 
 
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