Interview mit Bischof Gebhard Fürst „Wir müssen wieder zur Geh-Hin-Kirche werden“

Von sz
Für Bischof Dr. Gebhard Fürst aus Bietigheim-Bissingen ist das persönliche Gespräch mit den Menschen immens wichtig. Foto: Uwe Renz

Es ist eine richtige Austrittswelle, die die katholische Kirche derzeit aushalten muss. Der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der Bietigheim-Bissinger Gebhard Fürst, äußert sich dazu.

Mehr als 2000 Austritte von katholischen Christen aus der Kirche gab es im Jahr 2021 im Dekanat Ludwigsburg. 28 212 Katholiken traten insgesamt im Bistum Rottenburg-Stuttgart aus. Vom Unwillen über die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle über den Mangel an Reformen und das Festhalten an Vorschriften und Verboten, dem Zölibat oder dem Status von Frauen in der Kirche – Gründe für einen Austritt gibt es genug. Der in Bietigheim-Bissingen geborene Bischof Gebhard Fürst spricht mit der BZ über die Zukunft seiner Kirche.

Herr Bischof, wie sehr schmerzt Sie die Austrittswelle?

Bischof Gebhard Fürst: Jeder einzelne Austritt schmerzt mich sehr, das tut richtig weh. Auch, weil ich weiß, dass sich viele über die Kirche ärgern und manches im Argen liegt. Wir als katholische Kirche müssen uns anstrengen, um diese Austrittswelle wenigstens abzuflachen, müssen Vertrauen zurückgewinnen. Wir müssen den Menschen wieder näher kommen, unsere Aufgabe ist es doch, für die Menschen da zu sein. Wir sind, das sage ich immer, keine Komm-her-Kirche, in der die Gläubigen zu uns kommen müssen, sondern eine Geh-hin-Kirche, in der wir, die in der Kirche der Seelsorge verpflichtet sind, zu den Menschen gehen. Egal, wo ich bin, ich nehme mir immer die Zeit, mit so vielen Menschen wie möglich zu sprechen. Ich habe auch schon Ausgetretene angeschrieben, ihnen Gesprächsangebote gemacht, viele haben das angenommen. Da höre ich zum Teil erschütternde Dinge, warum sie von der Kirche wegwollen.

Ein Grund für viele Austritte ist aber das Gefühl vieler, dass die Kirchenverantwortlichen in den Gemeinden zu weit weg vom Menschen sind.

Dass unsere pastoralen Mitarbeiter nicht zu den Menschen gehen, sehe ich anders. Aber: Bei allem, was wir tun, müssen wir hier immer wieder prüfen, ob wir im Nahe-bei-den-Menschen-Sein nicht noch zulegen können. Gerade in Corona-Zeiten haben viele Seelsorger den Kontakt zu den Menschen gesucht, haben unter erschwerten Bedingungen beerdigt, Taufen gespendet, auch andere Formate gefunden, mit denen sie Kontakt aufnehmen konnten. Unsere Krankenhausseelsorger und -innen haben Corona-Kranke auf den Intensivstationen besucht und viele beim Sterben begleitet, als niemand mehr sonst bei ihnen sein durfte. Aber es ist klar, dass wir schon in der Ausbildung darauf achten müssen, dass Empathie, Zuwendung, Herzensbildung und Engagement ein wichtiger Aspekt für alle Seelsorger:innen ist. Jeder Priester, jeder Diakon, alle Pastoral- und Gemeindereferentinnen und -referenten müssen bei ihrer Arbeit eine große Bereitschaft an den Tag legen, den Menschen hilfreich und heilsam zu begegnen. Andererseits gibt es auch Klagen der pastoralen Mitarbeiter, dass sie oft für zu viele Menschen zuständig sind – und sich überbeansprucht fühlen.

Ein weiteres Austrittsargument ist, dass die katholische Kirche auch bei sozialen und karitativen Aufgaben kein Alleinstellungsmerkmal mehr hat. Wozu soll ich also noch Kirchensteuer zahlen?

Die Kirche hat gewachsene Strukturen wie Krankenhaus- und Notfallseelsorge, Trauerpastoral, Hospizdienst, Flüchtlingshilfe, Senioren- und Kinderbetreuung, Obdachlosenhilfe, Schulden- und Eheberatung, um nur ein paar zu nennen. Diese werden durch hoch qualifizierte Menschen getragen. Wenn wir diese Hilfe und Beratungsangebote nicht mehr finanzieren können, weil uns wegen des Rückgangs der Kirchensteuer das Geld fehlt, dann können wir diese Dienste, die allen Menschen offen stehen, nicht mehr anbieten. Sie kommen in unserer Diözese auch den pastoralen Aufgaben zugute. Wir sind im Übrigen sehr transparent, was die Finanzen angeht. Unser Haushalt wird von den in den Gemeinden demokratisch gewählten Mitgliedern des Diözesanrats aufgestellt.

Ist nicht auch der fehlende Nachwuchs ein Problem?

Deshalb setzen wir ja auch auf die Pastoralreferenten- und referentinnen, die Gemeindereferenten und -referentinnen sowie die Diakone und – hoffentlich künftig auch – Diakoninnen. Bei den Laiendiensten bilden übrigens die Frauen die Mehrheit. Ich bin sehr dankbar, dass wir für Wort-Gottes-Feiern an den Sonntagen 4000 gut ausgebildete Ehrenamtliche haben, davon 2500 Frauen.

Frauen fühlen sich dennoch in der katholischen Kirche unterrepräsentiert, weil sie keine priesterlichen Weihen bekommen können. Wie kann man Frauen mehr beteiligen?

Frauen haben wie alle Getauften und Gefirmten Anteil am Verkündigungsauftrag der Kirche. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in allen Bereichen mehr mitwirken und mitbestimmen können. Von den fast 10 000 gewählten Mitgliedern der Kirchengemeinderäte sind mehr als die Hälfte Frauen. Gleiches gilt für den Diözesanrat. Im obersten Leitungsgremium der Diözese, dem „Kabinett“ des Bischofs, sind derzeit fünf „Ministerinnen“ – fast 30 Prozent. Fünf wichtige Ressorts werden von Frauen geleitet. Seit vielen Jahren mache ich mich stark für das eigenständige sakramentale Amt der Diakonin.

Der meistgenannte Grund für einen Austritt aus der katholischen Kirche ist der nicht zufriedenstellende Umgang mit den Missbrauchsfällen. Wie reagiert die Diözese darauf?

Wir haben bereits im Jahr 2002 als erste Diözese in Deutschland eine weisungsunabhängige Kommission mit Expertinnen und Experten gebildet. Jeder gemeldete Fall von Missbrauch wird dort behandelt. Dann gibt es eine Empfehlung an mich als Bischof, wie mit den Tätern verfahren wird und wie sie bestraft werden. Ich habe mich selbst verpflichtet, mich an die jeweilige Empfehlung zu halten. Seit 2012 haben wir eine Stabsstelle Prävention. Wir haben das Problem frühzeitig erkannt und vieles richtig gemacht, finde ich. Dennoch werden wir in „Mithaftung“ genommen, wenn andernorts vertuscht und nicht verfolgt wurde – wie zuletzt in Köln, München oder Münster. Nach jedem neuen Gutachten schnellen die Austrittszahlen in die Höhe.

Ist der synodale Weg eine Zukunftsperspektive, mit dem die katholische Kirche überleben kann?

Es gibt bereits erste Entscheidungen, die dazu führen können, Machtstrukturen in der katholischen Kirche zu reformieren, sodass möglichst viele an der Gestaltung des kirchlichen Handelns teilhaben und mitwirken können. Das sind Schritte hin zu einer modernen Kirche, wie wir sie in unserer Diözese seit 50 Jahren praktizieren, mit gewählten Gemeindeparlamenten und dem Diözesanrat, der ebenfalls aus gewählten Mitgliedern besteht, diesen synodalen Weg werden wir weitergehen und noch verbessern.

Vielen Dank für das Gespräch.

Biografie Bischof Gebhard Fürst

Bischof
Gebhard Fürst wurde 1948 in Bietigheim-Bissingen geboren. Gebhard Fürst begann 1969 sein Studium nach dem Abitur, das er am Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium Bietigheim ablegte, mit der griechischen und hebräischen Sprache am Collegium Ambrosianum in Stuttgart. Er setzte es fort mit dem Fach Katholische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen (1970) und an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien (1971 bis 1972). 1975 legte er die Theologische Hauptprüfung (Erste Dienstprüfung) ab; im gleichen Jahr trat er in das Priesterseminar der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Rottenburg ein. Am 13. Dezember 1975 erfolgte die Diakonenweihe. Danach war er als Diakon in Sankt Johannes in Nürtingen tätig. 1977 erfolgte seine Priesterweihe durch Bischof Georg Moser in der Basilika Sankt Vitus in Ellwangen. Daraufhin wurde er Vikar in Sankt Josef in Stuttgart-Heslach und 1979 Repetent am Bischöflichen Theologenkonvikt der Diözese Rottenburg-Stuttgart Wilhelmsstift in Tübingen sowie Doktorand von Prof. Max Seckler am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Im Jahr 1980 erfolgte die Zweite Dienstprüfung.

1983
wurde Fürst kommissarischer Direktor des Theologenkonviktes Wilhelmsstift in Tübingen, 1986 Direktor der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Mitglied der Sitzung des Bischöflichen Ordinariates. 1987 promovierte er im Fach Fundamentaltheologie mit der Dissertationsschrift „Sprache als metaphorischer Prozess. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache“. Von 1993 bis 2000 war er Vorsitzender des Leiterkreises der Katholischen Akademien in Deutschland. Im Jahr 1999 verlieh ihm Papst Johannes Paul II. den Titel Kaplan Seiner Heiligkeit, 2000 ernannte er ihn zum Bischof von Rottenburg-Stuttgart. Seit 2007 ist Gebhard Fürst Vorsitzender der Publizistischen Kommission, einer der 14 Bischöflichen Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz. Des Weiteren ist er Mitglied der Glaubenskommission und leitet deren Unterkommission Bioethik.

 
 
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