Bietigheim-Bissingen Arbeitersiedlung mit Dorfcharakter

Von Yannik Schuster
Die Kammgarnspinnerei im Jahr 1930 Foto: /Stadtarchiv

Die Kammgarnspinnerei war die erste von drei Arbeitersiedlungen, die in der Stadt im 19. und 20 Jahrhundert entstanden. Außerhalb des Stadtgebiets entwickelte sich eine eigene kulturelle Gemeinschaft.

Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist zwar ein aktuelles, jedoch kein neues Problem. Schon zu Zeiten der Industrialisierung waren finanzierbare Unterkünfte Mangelware. In einigen Fällen halfen die Unternehmen nach und errichteten Arbeitersiedlungen. In Bietigheim-Bissingen sind dieser Tätigkeit drei neue Stadtteile entwachsen.

Im 19. und 20. Jahrhundert siedelten sich in Bietigheim einige große Fabriken an, allen voran die Kammgarnspinnerei – auch „Spinne“ genannt –, die am 9. Mai 1856 in Bietigheim am Standort Hegenau gegründet wurde. Über Jahrzehnte bestreitet die „Spinne“ mehr als ein Drittel des gesamten Steueraufkommens der Stadt, in den Jahren 1876 und 88 sogar mehr als die Hälfte.

Die Arbeiter der Fabrik waren meist junge, arme Menschen aus der Unterschicht, die noch bei den Eltern oder in kleinen Zimmern zur Untermiete wohnten. Die meisten von Ihnen kamen aus der Region – aus Bissingen, Untermberg, aber auch Löchgau, Besigheim und Walheim. Der alltägliche Fußweg zur Arbeit bei Wind und Wetter gestaltete sich oft lang und mühsam. Fahrräder gab es noch keine und als sie um 1900 populärer wurden, waren sie für die meisten Arbeiter nicht finanzierbar. Die Arbeitstage waren lang – durchschnittlich zwölf Stunden pro Tag an sechs Arbeitstagen pro Woche. Es war kein leichtes Leben für die Arbeiter der Kammgarnspinnerei. Umso wichtiger, dass die Verantwortlichen den Bedarf nach bezahlbarem Wohnraum in unmittelbarer Nähe zur Fabrik erkannten.

Zunächst wird eine Direktorenvilla direkt neben der Produktionsstätte errichtet, ehe 1857 auch zwei Wohnhäuser für die Aufseher und deren Familien gebaut werden. Dabei handelte es sich um typische Mehrfamilienhäuser mit jeweils sechs Wohnungen auf drei Stockwerke verteilt.

Erst vier Jahre später, 1861, kommt ein erstes Wohnhaus für zehn Arbeiter und deren Familien – kleiner als die Wohnungen der Aufseher aber dennoch ausreichend. Damals waren in der Kammgarnspinnerei insgesamt 207 Menschen beschäftigt, darunter 77 Frauen und 119 Männer in der Produktion. Toiletten und Duschen waren in einem Extragebäude neben der Fabrik untergebracht, einen Wasseranschluss gab es nicht, die Enz diente als Quelle.

Unterkünfte als Anreiz

Im Laufe der Jahre wuchs die Fabrik immer weiter, Arbeiter aus der näheren Umgebung reichten nicht mehr aus und so wurden aus ganz Deutschland Menschen angeworben. Der dafür benötigte Wohnraum musste jedoch zunächst geschaffen werden. Bis 1899 wurden insgesamt 24 Wohnungen zur Verfügung gestellt. Ab dem Jahr 1900 wurden schließlich neun große Backsteinhäuser entlang der Heilbronner Straße errichtet, die bis heute die Kammgarnspinnerei prägen. Platz für 69 Haushalte entstand dabei.

Trotz zahlreicher Brände in der Fabrik blieben die Wohnhäuser all die Jahre unbeschadet. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Wohnungsbau vor allem in den Jahren forciert wurde als sich in der Nähe des Bahnhofs die Linoleum-Werke immer stärker ausbreiteten. Eine Firmenwohnung machte eine Abwanderung unwahrscheinlich. Wer den Arbeitgeber wechselte, musste auch seine Bleibe aufgeben.

Die Mieten beliefen sich auf rund 14,5 bis 27,5 Mark jeden Monat in den Jahren nach der Währungsreform. Verdient hatte man rund 30 Mark pro Woche. Fließendes Wasser sowie die Benutzung des gemeinsamen Waschhauses war mit inbegriffen. Die nördlicheren Häuser waren etwas moderner, hatten etwa eine eigene Waschküche im Untergeschoss.

Jede Wohnung kam mit einem kleinen Hausgarten, weitere Gartengrundstücke waren an der Enz pachtbar. Insgesamt waren die Mieten deutlich geringer als anderswo, ähnlich verhielten sich jedoch auch die Gehälter. Entsprechend wurden Bewohner der „Spinne“ von anderen Stadtbewohnern oft herabschätzig betrachtet. Bei den DLW verdiente man deutlich besser, dafür sorgten soziale Einrichtungen, etwa eine kostenlose Kinderbetreuung, preiswerte Mittagessen, eine Betriebskrankenkasse, eine Leihbücherei oder die Benutzung des Backhauses zum Brotbacken bei den Bewohnern der „Spinne“ für Entlastung. Unter anderem der damalige Fabrikdirektor Hermann Vischer sorgte in den turbulenten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg mit Wohnungen, einer Kinderschule und dergleichen für seine Gefolgschaft und wurde von dieser wie ein Vater verehrt.

Es war eine kleine Welt, man kannte und half sich gegenseitig. Der Ortsteil entwickelte über die Jahre ein eigenständiges kulturelles und gesellschaftliches Leben. So hatte sich auch ein kleiner Laden, ein Gasthaus und verschiedene Vereine in der „Spinne“ niedergelassen. Es gab einen Gesangsverein und einen Musikverein, dessen Blaskapelle bekannter war als die Bietigheimer Stadtkapelle. Im Jahr 1910 war die Kammgarnspinnerei ein kleines Dorf mit 191 männlichen und 198 weiblichen Bewohnerinnen und Bewohnern.

 
 
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