Bietigheim-Bissingen Der Bodenbelag, der die Stadt prägte

Von Yannik Schuster
Eine Ansicht der Linoleum-Werke auf einem Briefkopf der Firma aus dem Jahr 1901 nach der Umbenennung in „Germania Linoleum Werke A.G.“ Foto: Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen

 Vor 125 Jahren siedelten sich die Linoleum-Werke in der Stadt an. Die Entstehungsgeschichte zeugt von Verhandlungsgeschick, Konkurrenzkampf und wirtschaftlichem Erfolg.

Vor 125 Jahren sollte sich die Zukunft Bietigheims nachhaltig verändern. Auf dem Gewann „Kürze“ siedelte sich 1899 eine Fabrik an, die die Stadt über mehr als ein Jahrhundert prägen sollte: Die Linoleum-Werke. Hermann Roemer schreibt dazu in „Geschichte der Stadt Bietigheim an der Enz“: „Der sichtbarste Ausdruck der neu-deutschen Weltwirtschaft in unserer Stadt, die damit in eine neue Epoche ihrer Geschichte eintrat.“

Schon seit 1891 war der damalige Bürgermeister Wilhelm Mezger darauf bedacht das Gelände zu beiden Seiten der Bahnhofsstraße industriell aufzuwerten. Jedoch kam erst 1899, als das Gemeinderatsmitglied, Teppich- und Linoleumhändler Friedrich Grimm den Stadtvätern das neue Unternehmen seines Stuttgarter Geschäftsfreunds David Heilner schmackhaft machte, Bewegung in die Sache. Heilner war auf der Suche nach einem Standort für die vom schottischen Linoleumfabrikanten Baron Michael Nairn begründeten Familienaktiengesellschaft „Linoleum-Werke Nairn AG“. Weitere Optionen waren damals Heilbronn und Mannheim.

Schwierige Verhandlungen

Einfach waren die Verhandlungen zwischen Heilner und der Stadt keineswegs. Der Linoleumhändler forderte einen Grundstückspreis von einer Mark pro Quadratmeter, eine Steuerbefreiung bis ins Jahr 1907 und weitere Steuererleichterungen bis 1912. Doch der Gemeinderat zögerte, vor allem weil er die Grundstücke, die sich größtenteils in Privatbesitz von Bauern und Handwerkern befanden, nicht „verschleudern“ wollte, wie Brigitte Popper in „Bietigheim 789 – 1989“ schreibt. Um Druck auszuüben besorgte sich Heilner kurzerhand Bauland in Bissingen und drohte seine Fabrik dort zu errichten.

Erst bei einer, von Friedrich Grimm organisierten, Versammlung von Gemeinderatsmitgliedern mit Heilner im Gasthaus Krone kam eine Einigung zustande. Unter anderem auf Rat des Bönnigheimer Stadtvorstands gingen Mezger und führende Gemeinderäte auf Heilners Forderungen ein. Weiter verpflichtete sich die Stadt auf eigene Kosten Straßen und Wasserleitungen zu bauen. Grimm erhielt daraufhin die alleinigen Verkaufsrechte im Stadtgebiet.

Konkurrenzkampf entfacht

Eine Entscheidung, die unter Bürgern und anderen Fabrikanten großen Unmut auslöste. Allen voran der Holzwarenfabrikant Arthur Faber, der selbst Interesse am Bahnhofsareal hatte, war erbost über die Ungleichbehandlung. Zwischen Faber und Heilner entbrannte daraufhin ein regelrechter Kampf um Bauplätze. So überbot Faber Heilner bei einigen wichtigen Parzellen, um eine weitere große Industrieansiedlung zu verhindern. „Obwohl vereinbart war, den Ankauf der Grundstücke durch die Stadt vorzunehmen, um nicht die Preise in die Höhe schnellen zu lassen, verdächtigten sie sich gegenseitig, ihr Ehrenwort gebrochen und auf eigene Faust Grundstücke an sich gebracht zu haben“, schreibt Brigitte Popper. Zudem hatte Faber Sorge, die Linoleum-Werke würden ihm das Wasser „abgraben“. Die Abnahmemenge von 100 Kubikmetern garantierte die Stadt Heilner zum Selbstkostenpreis, allerdings sollte die Wasserversorgung bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein Problem bleiben.

Noch vor Abschluss der Grundstückskäufe wurde die Stammfirma als „Linoleum-Werke Nairn AG“ am 25. April 1899 mit einem Stammkapital von 1,2 Millionen Mark gegründet, der Eintrag ins Handelsregister folgte am 16. Mai. Kurze Zeit später, am 28. Mai einigte sich Heilner auch mit Arthur Faber: Mit einem Tauschvertrag wurden die gegenseitigen Gebietsansprüche ausgeglichen.

600 Arbeiter am Bau beteiligt

Um die zweijährige Bauzeit einzuhalten, waren insgesamt 600 Arbeiter in Tag- und Nachtschichten damit beschäftigt, die Fabrikanlage zu errichten. Täglich mussten dabei zwei Züge mit 60 bis 65 Wagenladungen von 60 bis 70 Mann ausgeladen und zur Baustelle gebracht werden. Bis Sommer 1900 wurden so 15 500 Kubikmeter Beton und 6,4 Millionen Backsteine verbaut. Das 600 Arbeiter für die damalige Kleinstadt eine Herausforderung darstellten, wurde jedoch schnell deutlich.

Die Exzesse der Bauarbeiter sorgten für große Verärgerung der Anwohner, woraufhin vom Königlichen Oberamt ein dritter Landjäger zugestanden wurde. Die Bauarbeiten verursachten dabei nicht nur Krach und Unruhe sondern auch schwerwiegendere Zwischenfälle. So schrieb der Enz- und Metterbote am 5. Mai 1900: „Nachdem am letzten Dienstag früh im Neubau des Linoleumswerks sechs Kesselschmiede mit der Feldschmiede drei Stock hoch vom Gerüst gestürzt waren, sodass alle mehr oder weniger verletzt vom Platze getragen werden mussten, ereigneten sich gestern wieder zwei Unglücksfälle.“ Einem 19 Jahre alten Großingersheimer war beim Abladen von Eisenbalken der Fuß abgeschlagen worden, ein italienischer Arbeiter war auf einen Eisenbalken gefallen und verletzte sich so schwer am Hinterkopf, dass er noch in der Nacht verstarb.

Phase des Wachstums

Der eigentliche Geschäftsbetrieb wurde schließlich im Oktober 1901 aufgenommen, die ersten beiden Dampfmaschinen hatten eine kombinierte Leistung von 2000 PS, die dritte war mit 2300 PS gar die größte in ganz Süddeutschland. Über 500 Arbeiter produzierten fortan jährlich über zehn Millionen Quadratmeter des Bodenbelags. Einer der ersten Großabnehmer des Linoleums war das Katharinenhospital in Stuttgart. Am 11. Oktober 1901 wurde die Fabrik umbenannt in „Germania Linoleum-Werke“, wohl aufgrund des gegenüberliegenden Hotels „Germania“. 1905 verlieh der König David Heilner den Kommerzienratstitel.

Die Auftragslage war gut, die Fabrik schnell größter Steuerzahler der Stadt. 1910 war das Gewerbesteueraufkommen der Linoleumwerke dreimal so hoch, wie das Fabers als zweitgrößte Produktionsstätte der Stadt. Im Volksmund etablierte sich daher eine Redensart: Es gebe nur zwei Sorten von Menschen in Bietigheim. Solche, die schon „im“ Linoleum seien und jene, die gerne „drin“ wären.

Für die Stadt leiteten die Linoleumwerke eine Phase des Wachstums ein. Stagnierte die Bevölkerungsentwicklung zwischen 1880 und 95 noch, stieg sie in den Jahren bis 1910 von 3909 auf 5970. Der nahe liegende Bahnhof etablierte sich derweil als einer der 20 wichtigsten Stationen in Württemberg. Bietigheim wurde zu einer wichtigen Industriestadt.

 
 
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