Bietigheim-Bissingen Siedlung für „Neigschmeckte“

Von Yannik Schuster
Die Siedlung Köpenick am östlichen Ende des Viadukts in den 1930er Jahren. Den Germania-Linoleum-Werken diente sie als Anreiz bei der Akquise von Facharbeitern. Foto: /Stadtarchiv

Die Arbeitersiedlung Köpenick im Aurain entstand im Rahmen einer Wohnbauoffensive der Germania-Linoleum-Werke mit dem Ziel Facharbeiter aus ganz Deutschland anzuwerben.

Im frühen 20. Jahrhundert nahm der Arbeiterwohnbau in Bietigheim-Bissingen Fahrt auf. Im Jahr 1899 – kurz vor der Jahrhundertwende – siedelte sich in der Nähe des Bahnhofs in Bietigheim die Germania-Linoleum Werke AG (GLW) an. Bis dato hatte es in Deutschland nur drei solcher Fabriken gegeben – in Rixdorf (heute: Berlin-Neukölln), in Delmenhorst bei Bremen und in Berlin-Köpenick. In Süddeutschland gab es noch keine Produktionsstätten. Ab Herbst 1899 arbeiteten 600 Arbeiter in der Bietigheimer Fabrik, die tatsächliche Produktion wurde jedoch erst 1901 aufgenommen. In der ländlichen Region um Bietigheim waren qualifizierte Facharbeiter rar, und so mussten Arbeitskräfte aus anderen Standorten, zumeist Köpenick und Delmenhorst angeworben werden.

Um das Arbeitsverhältnis attraktiv zu gestalten wurde daher im Jahr 1903 begonnen, Wohnraum für höhergestellte Arbeiter zu schaffen: Es entstand die Arbeitersiedlung Köpenick am östlichen Ende des Viadukts. Innerhalb von sieben Jahren verdoppelte sich bis 1910 die Einwohnerzahl Bietigheims. Denn zuvor hatte es hauptsächlich Arbeit für Frauen in der Stadt gegeben, der größte Industriebetrieb war bis dahin die Spinnerei in der Kammgarnspinnerei. Mit der Ansiedlung der GLW fanden nun auch Männer eine Beschäftigung.

Gartensiedlung mit Innenhof

Direkt nach der Firmeneröffnung wurden die Ring- und Austraße erbaut. In den ersten vier Jahren wurden insgesamt 22 Häuser errichtet. Dabei handelte es sich um sieben Doppel- und 15 Einzelhäusern mit einem Vorgarten zur Straße hin – in Abgrenzung zur Wohnsiedlung in der Kammgarnspinnerei, die als Mehrfamilienhäuser in Backsteinbauweise gebaut wurde. Die Farbe der Gebäude ist seit jeher unverändert gelb. Im Jahr 1906 entstand dann die sogenannte Gartensiedlung, die nach englischem Stil gebaut wurde. Die Wohnhäuser wurden dabei um einen grünen Innenbereich, eine Art Innenhof, errichtet – für die damalige Zeit eine Seltenheit.

Im Jahr 1920 wurde die Siedlung erweitert, jedoch in einem anderen Stil. Statt freistehender Gebäude wurden dann leicht versetzte, schmale aber lange Reihenhäuser errichtet. In dieser Zeit entstanden die Olga-, Schöller- und Hans-Stangenberger Straße. 1925 folgten mehrere Mehrfamilienhäuser im Aurain, 1930 Häuser im Bauhaus-Stil. Die GLW prägte damit den Stadtteil. Tennisplätze, ein Sportplatz sowie ein Kindergarten wurden angelegt.

Wohnungsbau als Anreiz

Durch die Weltwirtschaftskrise war die Baupolitik der GLW im Aurain schließlich nicht mehr tragfähig. Zu den letzten Projekten gehörten einige architektonisch bemerkenswerte Gebäude in der Schöllerstraße.

Die Siedlung Köpenick war in unmittelbarer Nähe zur Fabrik am Bahnhof angesiedelt, die Mieten trotz verhältnismäßig guter Löhne bei der GLW sehr gering. Die Arbeiterwohnungen dienten einerseits als Anreiz, um Facharbeitern den Umzug nach Bietigheim schmackhaft zu machen – vor allem aus Köpenick und Delmenhorst wurden Arbeitskräfte angeworben –, andererseits als Absicherung gegen Arbeiterunruhen, mit denen man zur damaligen Zeit rechnen musste. Belege für solche Überlegungen seitens der GLW liegen zwar keine vor, die Schlussfolgerung liegt jedoch nahe, schreibt Brigitte Popper in „Bietigheim 789-1989“. Anders als die Facharbeiter schufteten die Hilfsarbeiter für einen sehr geringen Lohn. Dieser führte im Jahr 1906 dazu, dass 100 verheiratete und 74 ledige Hilfsarbeiter der Linoleum-Werke streikten, weil ihr Stundenlohn von 25 bis 27 Pfennig kaum fürs Überleben reichte.

Der Name Köpenick entwickelte sich über die Jahre von selbst: Der Volksmund taufte die Siedlung nach den dort ansässigen „Neigschmeckten“.

 
 
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