Pflege-WG in Kirchheim Weitgehend selbstbestimmt leben

Von Jürgen Kunz
Das neue Gebäude in der Schillerstraße 31 für die Kirchheimer Pflege-WG. Dort sind auch eine Allgemeinarzt- und Zahnarztpraxis untergebracht. Foto: /Oliver Bürkle

Nach langem Anlauf sind die Voraussetzungen für eine Pflege-WG fertiggestellt. Im Anna-Riecker-Haus in der Schillerstraße stehen dafür zwölf Zimmer auf 420 Quadratmetern barrierefreier Fläche bereit.

Es war ein langer Weg, bis nun an diesem Sonntag, 3. März, im Rahmen eines Tags der offenen Tür die Pflege-WG in der Kirchheimer Schillersraße 31 vorgestellt werden kann. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatten sich Bürgermeister Uwe Seibold und einige Gemeinderäte von selbstverwaltenden Pflege-WGs in Südbaden inspirieren lassen, mit dem Ziel diesen anderen Ansatz in einer Pflegeeinrichtung auch in Kirchheim umzusetzen: Die Pflege-WG soll es den Bewohnern ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das heißt, sie sind mit Unterstützung ihrer Angehörigen selbst dafür verantwortlich, ihren Haushalt zu führen und ihren Alltag zu organisieren. „Die WG bietet die Möglichkeit, einerseits die eigene Individualität zu bewahren und andererseits gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu erleben. Die familiäre Atmosphäre und die gemeinschaftlichen Aktionen sollen die Alltagskompetenz erhalten und fördern“, so laut Seibold der Anspruch.

Zwölf Einzelzimmer

Es wurde ein Förderverein gegründet, der Gemeinderat gab grünes Licht, aber die Umsetzung gestaltete sich schwierig, durch das Baurecht und andere gesetzliche Hürden, unter anderem dass ein Pflegedienst nicht auch gleichzeitig der Träger einer Pflege-WG sein kann, aber auch durch die Coronazeit. Im Oktober 2017 war Seibold noch zuversichtlich, dass im Frühsommer des Folgejahrs ein Baubeginn möglich wäre. Es sollte bekanntlich anders kommen, doch jetzt stehen im Erdgeschoss des Anna-Riecker-Hauses (siehe Infokasten) über 420 Quadratmeter barrierefreie Wohnfläche für die Pflege-WG bereit. Es gibt zwölf Einzelzimmer mit jeweils 15 Quadratmetern. Dazu kommt ein zentraler Wohn- und Essbereich mit großer, rollstuhlgerechter Küche. Als Rückzugsorte sind zusätzliche Aufenthaltsbereiche eingerichtet worden. Terrasse und Garten sind über die Gemeinschaftsebene erreichbar. Im Obergeschoss hat sich seit Anfang Januar die MVB-Allgemeinarztpraxis niedergelassen, die ihre Räume bislang in der Hauptstraße hatte. Die Zahnarztpraxis von Dr. Nils Gerhard ist seit Anfang Dezember neu in Kirchheim. Im Dachgeschoss befinden sich Wohnungen, die über einen Aufzug erreichbar sind.

Freie Wahl des Pflegedienstes

„Für unsere Gemeinde sind Pflege-WG und Ärztehaus eine ganz wichtige Ergänzung des bisherigen Angebots“, erklärt Bürgermeister Uwe Seibold. Die Gemeinde ist Initiatorin und Projektträgerin, die evangelische Kirchengemeinde Kirchheim und die Sozialstation Bönnigheim stünden als Kooperationspartner und Geldgeber an ihrer Seite. Mit dem Tag der offenen Tür startet, so Seibold, auch die Akquise für die Erstbelegung, über die die Gemeinde entscheidet. Kriterien dafür sind unter anderem die räumliche Nähe der pflegebedürftigen Menschen jeden Alters mit und ohne Demenz und mindestens Pflegegrad 2. Eine weitere Voraussetzung ist, dass die Angehörigen bereit sind, sich in den Alltag der WG und in die Unterstützung der Pflegebedürftigen einzubringen sowie sich in den Kooperationsrat einzubinden. Diesem gehören die Gemeinde, die Kooperationspartner und mehrere Bewohner beziehungsweise Angehörige an.

„Nach der Erstbelegung entscheidet der Bewohnerrat mehrheitlich über neue Mitbewohner“, macht Seibold deutlich. Eine zentrale Rolle spielen die hauptberuflichen Alltagsbegleiter, die rund um die Uhr in der Wohngemeinschaft präsent sind. Sie verfügen über Grundkenntnisse in der Pflege, in der sozialen Betreuung und in der Hauswirtschaft. Sie sollen die Bewohner einbinden und fördern. „Die Bewohner entscheiden auch über die Mitarbeiter“, merkt Seibold an.

Für darüber hinaus gehende individuelle Pflegeleistungen können die Bewohner frei wählbare ambulante Dienste beauftragen. Die Bewohner leben dort selbstbestimmter, entscheiden mehr und haben auch die Schlüsselgewalt für die WG.

Beim Tag der offenen Tür
am Sonntag, 3. März, können von 11 bis 16 Uhr die Pflege-WG und die Arztpraxen besichtigt werden. Laut Bürgermeister Seibold wird es im April nochmals eine Informationsveranstaltung zur Pflege-WG geben. Er erwartet den ersten Bezug zwischen Pfingsten und Sommer. „Wir beginnen, wenn die ersten drei Zimmer vermietet sind“, sagt der Bürgermeister und geht davon aus, dass es bis zum Jahresende eine Vollbelegung gibt.

Anna-Riecker-Haus
ist der Name des Gebäudes für Pflege-WG und Ärztehaus in der Schillerstraße 31. Die Kirchheimerin hatte der Gemeinde nach ihrem Tod im Jahr 2004 einen Teil ihres Vermögens vererbt mit der Auflage, das Geld für soziale Zwecke zu nutzen. Die Gemeinde hatte deshalb die Anna-Riecker-Stiftung eingerichtet. Mit Zinserträgen konnten bereits einige Projekte gefördert werden. Das Geburtshaus von Anna Riecker steht nur rund 100 Meter von der Pflege-WG entfernt.

Die Gesamtkosten für die Pflege-WG belaufen sich auf 1,65 Millionen Euro. Die Gemeinde trägt davon 50 Prozent, die evangelische Kirchengemeinde und die Sozialstation Bönnigheim zusammen die andere Hälfte. Aus der Ann-Riecker-Stiftung, der Stiftung für Krankenpflege, aus der Seniorenbetreuung und Menschen in Not und aus der Ernst-Ackermann-Stiftung sind 750 000 Euro in das Projekt geflossen, teilt die Gemeinde mit. Das Land steuert einen Zuschuss von 100 000 Euro bei, der Landkreis 50 000 Euro.

 
 
- Anzeige -